Erwachsen werden
mit Woodstock & Duisburg 

von Karlheinz Damerow

In einer angewandten Demokratie, einer Staatsform, die kluge Köpfe für die beste unter allen schlechten Herrschaftsformen halten, geht die Staatsgewalt vom Volk aus. In einem hundertköpfigen Volk werden also Entscheidungen schon mal von mindestens 51 Idioten gegen 49 Weise getroffen. Lassen wir Idioten und Weise weg, dann geschieht in einer Demokratie stets das, was nach einer Abstimmung die wollen, die mindestens eine Stimme mehr auf ihre Seite bringen, als die mit einer anderen Meinung, wenn beim Zählen der Stimmen nichts schiefgegangen ist. 

So ist es denn wohl nicht verwunderlich, wenn die Internalisierung (die innere Aneignung) dieser Form politischer Entscheidungsfindung von den Menschen in Demokratien auf alle möglichen anderen Ebenen übertragen wird und die Bedeutung von "VIELE" pauschal gleichgesetzt wird mit "recht haben", mit "gut" und "erstrebenswert sein". Der durchaus gewollt biologisch inkorrekte wie ironische Klospruch drückt es so aus: "Milliarden von Fliegen können sich nicht irren: Esst mehr Scheiße!". Besser ist die flächendeckend faszinierende Wirkung von Hitparaden, Einschaltquoten und Klickraten nicht zu veranschaulichen, wenn sie 1zu1 als Maß für die Qualität einer Internet Seite, einer Sendung, oder der Kopie einer Musik Aufnahme missdeutet werden. 

In Wahrheit sagt ein höherer Hitparadenplatz doch nur, dass von diesem Musikstück mehr Kopien verkauft wurden als von einem anderen, das etwa gar nicht in dieser "Parade" erscheint, das aber von weit höherer musikalischer Qualität sein kann, meist auch ist. Ein Hitparadenplatz ist eher eine Selbstanzeige der Plattenfirma beim Fiskus, Abteilung Umsatzsteuer, als ein Maßstab für den musikalischen Wert der gehandelten Kopie. Milliarden von Fliegen können sich in Sachen bevorzugter Nahrungsquellen genetisch bedingt wirklich nicht irren, wohl aber Menschen, die in massenhaft vernunftfreier Stimmung meinen, unbedingt genau diese Kopie ihr Eigen nennen zu müssen. Entsprechendes gilt für den (Werbe!) Wert von Internetseiten und Radio- oder Fernsehbeiträgen. Wolfgang Neuss hat schon vor fast einem halben Jahrhundert dazu bemerkt: "Der neue Wert: Niedrige Einschaltquoten: Je weniger zugucken, um so edler die Sendung. Mehr Botschaft vom Kastenmedium fordern!"

Wie ist es dennoch möglich, dass die Höhe von Verkaufszahlen, also Profite von Produzenten und Händlern, die Höhe der Vergütungen für Waren-Anpreisungen, also Profite von Werbefirmen für Zuhörer-, Zuschauer- und Anklickzahlen in der Meinung der "Massen" zu DEM Maß alles Guten, Wahren, Erstrebenswerten geworden sind? Haben allmächtige Händler ihre Werte Skalen in die Gehirne einer wehrlosen Menschheit gebrannt? Eignete sich das Konsum-Vieh die „Zehn Gebote“ seiner Schlächter an?! Wie kann man sich erklären, dass seit über vierzig Jahren auf diesem Planeten immer wieder junge Menschen das Erlebnis der Masse für derart erstrebenswert halten, dass sie sich freiwillig(?) an +- elenden Veranstaltungsorten wie Lemminge in der Dose versammeln?

Kommen wir also zur "Loveparade" und zum Vergleich mit anderen Massenveranstaltungen, wie er in der Aufregung um die Toten von Duisburg auch von Jens-Christian Rabe in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Juli 2010 [ mit dem Konzert von Altamont gezogen wird. Beide Massenveranstaltungen werden, wohl in erster Linie, weil in ihrem Verlauf Menschen zu Tode kamen, gleichermaßen überinterpretiert als Endpunkte von "Bewegungen": Altamont, 1969, als das Ende der Unschuld der Hippies und der Unbeschwertheit der sechziger Jahre und Duisburg, 2010, als das Ende des Techno, "Friede, Freude, Eicherkuchen", "Hopsen für Toleranz und kosmopolitisches Denken".

Was auf beide zutrifft: Es waren im Kern kommerziell motivierte Veranstaltungen. Die Macher von Altamont wollten ihre Westküsten Ausgabe von Woodstock, das drei Monate vorher und zwei Jahre nach dem ersten Konzert in Monterey seine Massenmachbarkeit bewiesen und seinen verlockend unschuldigen Ruhm begründet hatte. Ein Mucki-Buden-Betreiber wollte nun in Duisburg eine mehr als 20 Jahre alte Hüpf-Tanz-Bewegung melken, die schon mehrere zig Millionen Menschen mobilisiert hat und bis dahin, außer durch akustische Belästigung von Anwohnern, Müll und Fäkalien, blödzeitungs-moralisch unauffällig geblieben war.

Die bei jeder Katastrophe wie das Amen in der Kirche gestellte Frage: WARUM? Warum verlief die Unternehmung, die vermutlich beider (un)heimliches Vorbild ist, das von Woodstock, so friedlich, bis auf einen Traktorunfall, ohne einen Toten? Als deren Macher von einer ungeahnten Menschenmenge buchstäblich überrannt und die Zäune um den Acker von Bauer Max Yasgur eingerissen worden waren, erklärten sie Woodstock zum "Freien Konzert". Unvorstellbar, wie (unbeabsichtigt) klug diese Entscheidung der jungen, noch herzlich erfrischend unprofessionellen, und wenn, prä-kommerziellen Typen genau zu diesem Zeitpunkt war und mit wie viel "Schwein" sie dafür gerechterweise auch noch belohnt wurden. War doch nach allen ungünstigen Umständen im Vorfeld und während dieses tollkühnen Unternehmens eigentlich nichts anderes als eine grandiose Katastrophe zu erwarten!

Altamont war von Anfang an ein freies Konzert, Woodstock nicht. Die spontane Entscheidung dafür im Verlauf des Konzertes war eine einfühlsame Verlängerung der allgemeinen Euphorie und bestärkte damit eine massenhaft fröhliche und friedliche Grundstimmung. Sie machte den Teilnehmern deutlich: Es geht uns nicht (nur) um Euer Geld. Sicherlich eine wesentlicher Faktor, der Panik vermieden hat unter „hochanständig“ erzogenen Kindern hochanständiger Eltern, die sich zu ausgelassen schlammbadenden Jüngern psychedelischer Klänge gewandelt hatten.

War es also etwa nur intuitive Psychologie, also reiner Zufall, wenn einige Veranstalter von „Populärkultur“, die den „Reiz des Massenhaften“ erlebbar machen wollen, wie in Moterey und Woodstock, keine toten Besucher beklagen mussten? Hatten die in Altamont, Roskilde und nun in Duisburg einfach nur Pech? Oder liegt die Antwort auf die Frage nach dem Warum noch ganz woanders, etwa in den Motivations-Überschriften solcher Events "bewegter" Jugend?

In den USA der sechziger Jahre war es die Hippie-Kultur, der Vietnamkrieg und die Bürgerrechtsbewegung; 2.0 in Deutschland war es eine heiter-national-stolz-plärrende Fußball-Märchen-Hype; Vom "akustisch reproduzierbaren Hüpf-Glück" aus Berlin 1989 bis zu „dance or die“ in Duisburg 2010: Immer neue, wenn auch immer substanzlosere Aufhänger eines "Wir"-Gefühls.

Was aber unwidersprochen zeitlos gleich geblieben ist, ist das Streben jeder Jugend-"Bewegung" nach Freiheit und Ungebundenheit. Die Suggestion der verwirklichten Abnabelung von der Elterngeneration, wenigstens für ein paar Stunden, verschaffen Events, die Geschäftsleute seit der Elektrifizierung der Musik vermehrt anbieten.

Ein Faktor, der die individuell beglückende Wirkung jedes noch so trügerischen, noch so inhaltsarmen "Wir"-Gefühls entscheidend befördert, ist die schlichte Größe der vermeintlichen oder auch wirklichen Zahl Gleichgestimmter vor Ort. Wie schön und wie praktisch dann doch der Synergie-Effekt von massenhafter "Wir"-Gefühl-Bedürfnisanstalt und entsprechendem Profit ist und wie entsprechend(?) klein die Bereitschaft, im Falle von Personen- und sonstigen Schäden, Verantwortung zu übernehmen.

Wer Pubertisten auf ihrer Suche nach Freiheit und Ungebundenheit an ganz anderer Stelle die Fahrerlaubnis für kriminell untermotorisierte Zweiräder auf Bundesstraßen erteilt, der ist damit objektiv mit verantwortlich für jährlich Tausende junger Verkehrstoter. Dieser unbestreitbare Sachverhalt zeitigt in allen Medien, gleich welcher Couleur, längst nicht annähernd die Aufmerksamkeit und aufgeregte Suche nach "Schuldigen", wie zu recht die 21 Toten in Duisburg. Der alltägliche Blutzoll im Straßenverkehr wird in aller Stille auf dem Altar der Arbeitsplätze in der Autoindustrie geopfert, "weil" er durch keine noch so ausgeklügelten Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit (außer der Rücknahme der Fahrerlaubnis) zu vermeiden sei.

Heißt: Wer die massenhafte Automobilisierung grundsätzlich will, muss auch bei allen Bemühungen um Verkehrssicherheit mit einer Mindestzahl von Verkehrstoten leben?

Heißt: Wer Massenveranstaltungen der Popkultur will, der kann nicht nur Veranstalter wie Lieberberg, Dr. Motte oder die von Woodstock sagen, der muss auch zu denen von Altamont, Roskilde und nun auch von Duisburg stehen?

Tatsache ist, dass nur Teile der Gesamtbevölkerung immer wahnwitzigere, mit Steuergeldern gebaute Monster-Veranstaltungsorte, "Arenen", für die Beobachtung und Begrölung so sinnarmer Veranstaltungen wie Fußballspiele und ein paar Rockkonzerte beanspruchen. Wieder andere Teile der Bevölkerung nehmen von allen Bürgern bezahlte Infrastrukturen und Dienstleistungen bei nicht eben viel sinnhafteren "Liebes Paraden" in Anspruch.

Wenn diese unsymmetrischen Tatbestände in unserer Gesellschaft kritisch unter die Lupe genommen werden, dann kann ich darin übrigens weder „spitzfingerige Nörgelei im finalen Stadium selbstzufriedener Ahnungslosigkeit“, noch die „unverhohlene Fratze stumpfsten Elitismus gegenüber der Massenkultur“ entdecken. Sollte Jens-Christian Rabe dies nach reiflicher Überlegung immer noch allen Ernstes meinen, dann hat er sich in meinen Augen aus dem Kreis ernstzunehmender Diskutanten verabschiedet.

Es geht eben nicht um die austauschbaren, immer wieder neuen Inhalte der Anlässe für die Befriedigung des Bedürfnisses nach dem "Reiz des Massenhaften" einer "bewegten" Jugend. Es geht im Kern um die zeitlos immer gleichen Probleme, Befindlichkeiten in der menschlichen Entwicklungsphase hin zum Erwachsenenalter. Und es geht um die Frage, ob die profitable Gestaltung dieser existenziellen Motivlage grundsätzlich und weiterhin marktliberaler Ausbeutung überlassen bleiben sollte, während Verantwortung und Kosten für Personenschäden und den Einsatz von Polizisten bei Politik, Verwaltung oder sonst wo abgeladen werden dürfen. Ganz nach dem schönen steinzeitkapitalistischen Motto: Gewinne - ob meterielle oder moralische - privatisieren, Verluste sozialisieren?!

Wenn nun gar als Folge eines möglichen Rückzugs der Städte und Gemeinden aus Massen-Event- und Public-Viewing-Veranstaltungen, nicht nur wg. allgemeiner Verschuldung, sondern aus aktuellem Anlass wg. "Todesparaden-Schock" der allgemeine individuelle Rückzug ins Private befürchtet wird, dann kann ich nur fröhlich sagen: "Na, und...?".

Die Abnabelung der Generationen hat Millionen von Jahre auch ohne die Segnungen einer kommerziell gestalteten Populärkultur geklappt. Sie würde mit Sicherheit auch einer Generation "vor dem Computer Vereinsamter" gelingen, sollte dieses Menetekel je wahr werden.

Hätte meine Generation auf die beglückende Wirkung von Levis-Hosen und Rock-Musik verzichten müssen, dann würde mir heute sicher ein ganz toller Teil meines Lebens fehlen. Aber die Profilierung gegenüber der Nazie-Eltern-Generation wäre mit Sicherheit auch ganz anders gelungen. Die Zukunft der Menschheit wird gewiss nicht scheitern, sollte das große "Bum Bum Bum" einmal nicht mehr der Aufhänger für eine nächste "bewegte" Jugend sein.

Sollten sich doch noch einmal "VIELE" Menschen, nicht nur die in Demokratien, über die Freude an Gemeinschaftserlebnissen ohne großartigen Qualitätsanspruch hinaus, mit der Einsicht anfreunden können, dass Wichtiges und Neues für uns alle seltenst aus der Mitte der Herde, aus dem "Mainstream", sondern von den Rändern her kommt, aus Minderheiten von Fachleuten,  Enthusiasten, von Intellektuellen und Eliten, dann wird Wolfgang Neuss glücklich aus seiner THC-Wolke lächeln und auf ein Programm mit garantiert niedriger Quote klicken.

Milliarden von Fliegen können sich nicht irren, aber Menschen brauchen keine, auf-Teufel-komm-raus immer massenhafteren und zweifelhafteren "Wir"-Gefühle, um erwachsen zu werden!



Das große Bum, Bum, Bum
Warum das Ende der Loveparade nicht das Ende einer Popkultur ist
von Jens-Christian Rabe
Süddeutsche Zeitung, 27. Juli 2010

nach oben

.