Präzise sentimentaler Kitsch

Dirk von Lowtzow, Tocotronic-Sänger


Exzerpt eines Artikels von JENS-CHRISTIAN RABE


Bei „etwas übertrieben“ fühle ich mich besser unterhalten als bei „zu bescheiden“. „Gewollt kitschig“, Kitsch, der Kitsch sein soll, kann ich etwas abgewinnen.

Das ist Kitsch erster Ordnung, wie Sissy- oder King-Kong-Filme. Schlager wie „Weiße Rosen aus Athen“ von Nana Mouskouri oder „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens, wollen genauso rührselig sein, wie sie sind.

Kitsch zweiter Ordnung entsteht, wenn man Kitsch unbedingt vermeiden will. Weinerliche Männer, Kumpeleien, Cineasten-Kitsch wie Wim-Wenders-Filme, überauthentischer Kitsch, Ehrlichkeits-Kitsch.

Ich habe viele kitschige Textzeilen geschrieben, je unehrlicher, künstlicher, weniger vertrauenswürdig, unseriöser – desto besser.
(... weil daneben zielen besser trifft ...? Also doch als wohlfeile Ironie getarnte "unerträgliche" Sentimentalität? s.u.)

Dagegen ist die Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Authentizität der Rockmusik für mich scheußlicher Kitsch zweiter Ordnung, der am Ende unerträglich sentimental ist (s.o.). Betont sentimentale Kunst ist meistens schlecht.
(... weil der Künstler den Mut haben müsste, beim Wort genommen zu werden ...?)

Liedtexte schreiben ist eine der handwerklichsten Kunstformen. Dabei muss man:
- unsentimental vorgehen
- genau überlegen, wie es klingen muss, die Worte, die Melodie so gut wählen,
damit die Leute sentimental werden
- die Musik „clever“ komponieren
- sorgfältig schreiben, wie Profis, Experten
- es geht um Präzision
- den Ehrgeiz haben, dass alles gut passt
- über die Straße laufen, etwas spüren, wahrnehmen, Aversionen bekommen – und die sind dann Inspiration.
(... für den kleinen "Wutbürger" D. von L. ...?)

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Bei aller Perfektion der Tonerzeugung, die auch diese Band auszeichnet – nun weiß ich auch, warum sie mich 20 Jahre lang nie interessiert hat.

Dieses rundum beredte Sezieren seines auch noch rundum sezierbaren Tuns entlarvt den Text- und Liedschreiber als durchaus weitgehend frei von Kunst. Ein Attribut, das keinen Raum hat, wo gewollt ist, dass jedes Wort und jeder Zusammenhang, exakt wie vom Autor „gehandwerkt“, beim Kunden ankommt. Selbst wenn das, was unsentimental clever, sorgfältig präzise, professionell gesongraitet ankommt, ein Gefühl ist, dann gerät das auf diese Weise banal, langweilig.

Und das gilt für viele zeitgenössische, profitable Musik-Kollektive, die in Wirklichkeit Gebrauchsanweisungen und Beipackzettel unbemerkt vom Publikum als Musik vermarkten.

Kunst ist (nur) da (möglich), wo Unschärfe und Reduzierung Raum lassen für die Vorstellungskraft und damit ein freies Mitwirken des Rezipienten. Besonders auch frei von visuellen Belästigungen und Bevormundungen = "Musik-Videos!"


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Es geht um Präzision

20-jähriges Bandjubiläum und ein neues Album: Der Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow über guten Kitsch, falsche Sentimentalität, Charles Baudelaire, Udo Jürgens und die Inspiration durch den Zeitgeist

Von JENS-CHRISTIAN RABE
Süddeutsche Zeitung, 21. Januar 2013


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