"Das Hochschulsystem war auch früher schon absurd - Christian Bode antwortet Liebe Charlotte! Als ich 1989 mein Lehramtsstudium (Deutsch und Geschichte) an der altehrwürdigen Universität Göttingen begann, hatten die Professoren einen großen Namen und einen noch größeren Hörsaal. Dort liefen die Vorlesungen mit mitreißenden Semesterthemen wie zum Beispiel Goethes Romane (I), Goethes Romane (II), Goethes Lyrik (I), Goethes Lyrik (II) etc. Da konnte/durfte man hingehen, aber niemand überprüfte das. Also gingen wir hin, wenn der Professor seine Sache einigermaßen an 'den Mann' zu bringen wusste. Oder wir blieben eben weg, wenn die Vorlesungen nur aus dem Wiederkäuen der bereits in Buchform erschienenen Leib- und Magenthemen bestand und dies wie so oft noch dazu in einschläfernder Manier. Das eigentliche Studium, das fand ganz woanders statt, nämlich in den Seminaren des so genannten akademischen Mittelbaus. Hier saßen oftmals hoch motivierte und junge(!) Dozenten, die nicht selten auch noch an Schulen unterrichteten und deren Lehraufträge nicht selten zeitlich begrenzt waren. Hier gab es zumeist das, was du so schmerzlich in deinem Studium vermisst hast: Wissensvermittlung UND Diskussion auf akademischem Niveau. Da ging man gern hin, und am Ende stand eine Hausarbeit, bei deren Anfertigung man im Idealfall sogar noch ein wenig Betreuung erfahren konnte, wenn man es denn wollte. Aber um es klar zu sagen: Auch hier saßen nicht wenige studentische Dummschwätzer und Leute, die eine klar erkennbare Aversion gegen Bücher hatten und sich beharrlich weigerten, irgendetwas Sinnvolles beizutragen, die zu allem einen Standpunkt hatten, egal wie ahnungsfrei sie waren. Zumeist bekamen auch die dann irgendwie und irgendwann ihre Scheine. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es noch einige Jahre bis zur Erfindung des Internets dauerte und man keine Hausarbeiten herunterladen konnte... In diesem Punkt unterschieden sie sich nicht von den Leuten, die dir auf deinen Beitrag auf jetzt.de geantwortet haben und sich darüber wundern, dass du dich darüber wunderst, dass man ein Studium ohne Buchlektüre schaffen kann. Das nur mal dazu. Geprägt haben mich dennoch andere Dinge: Bleiben Sie beim Thema, Herr Bode, wirst du vielleicht sagen. Ich will damit sagen, dass viele Dinge, die den Studierenden heute in der Uni so nerven, nicht nur ein Problem seiner Generation sind. Das System war auch früher schon absurd und von Widersprüchen geprägt. Spätestens im Examen zeigte sich dann das Symptom, das du so schön beschreibst: Es wurde ein zentrales Thema gestellt, dazu gab es eine Literaturliste (mit echten Büchern!) und dann wurde stumpf gepaukt. Fakten, Fakten, Fakten, und zwar lang schon, bevor ein Focus das zu seinem journalistischen Credo machte! Ich kann mich nicht mal mehr an die Inhalte erinnern soviel zum Thema akademisches Lernen damals und heute! Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Viele merkten erst später im Referendariat (viel zu spät), dass die Schule nicht ihre Sache war und standen dann nicht selten vor den Trümmern ihrer beruflichen und privaten Zukunftsvisionen. Da lief und läuft mit Sicherheit einiges schief! Lehrer sein konnte man schon damals nicht in der Uni lernen. Für andere Berufe galt wahrscheinlich ähnliches. Noch ein Wort zur Schule: Dass ich euch mit dem TRANSFER so genervt habe, tut mir leid! Aber ich bin ohne Reue und würde es wieder tun! Warum? Ganz einfach: Die Schule kann niemanden auf sein individuelles Studium oder die Berufsausbildung vorbereiten. Das konnte sie wohl auch nie. Vom Leben will ich gar nicht erst reden, das ist so abgedroschen. Das deutsche Schul- und Bildungssystem ist wie der so oft als Bild bemühte Öltanker schwerfällig und mit langem Bremsweg, wenn es mal in die falsche Richtung geht. Die ländereigene Bildungs- und Schulpolitik ist nun mal das letzte politische Versuchsfeld, auf dem jeder und jede mal so richtig die Sau rauslassen kann, ohne dafür gleich die Quittung bei der nächsten Wahl zu bekommen. (Was ja wohl auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist/wäre!?(K)) Das schafft Schmerzfreiheit und man findet auch immer eine Studie, die einem Recht gibt. Dazu bedarf es oft nur weniger preiswerter Zutaten, um hier sein eigenes ideologisches Süppchen zu kochen. Man nehme: Das Schöne an Schule ist eben auch: Jeder 'kennt sich damit aus', denn jeder war mal da. Ach Charlotte, was soll ich dir noch Tröstliches sagen? Vielleicht, dass das niedersächsische Zentralabitur in weiten Teilen inzwischen eine wahrscheinlich recht gute Vorbereitung auf die Lehr- und Lernstrukturen „eurer“ Universitäten geworden ist: Enge Rahmenthemen, viel Lernstoff für die Schüler, genussarme aber gut verdauliche Häppchenliteratur für intellektuell Unbedarfte, ein knapper Zeitplan und in Korrekturen und Dokumentationszwängen erstickende Lehrer. Das lässt Lehrende und Lernende zu einer echten Schicksalsgemeinschaft werden! Das Zauberwort ist dabei neuerdings „Kompetenzorientierter Unterricht“. Soll heißen: Wichtig ist nicht so sehr, dass ich wirklich inhaltlich etwas lerne, sondern dass ich weiß, wie ich das im Ernstfall organisieren könnte, falls Wikipedia mal ausnahmsweise nicht weiter weiß oder mein Internetanschluss Probleme macht. Charlotte, ich bleibe dabei: Da höre ich schon wieder welche rufen: Pfui! Wie kann der Lehrer das so sagen?! Das ist gegen unsere Ideale! Kann sein. Höre da einfach nicht hin, ich tue es schon lange nicht mehr. Gehe deinen Weg und lass dich nicht verbittern, ich bin es auch nicht. Es grüßt dich dein Lehrer von "einst" Christian Bode siehe auch: Brief von Charlotte Haunhorst an Christian Bode "Das Hochschulsystem war auch früher schon absurd" |
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