Helge Schneider – Musik zu seinen Bedingungen

Der große Poet und wunderbare Jazzmusiker. 

Von Christian Zaschke

Süddeutsche Zeitung
11-04-11 

Exzerpt von Karlheinz 

Sergej Gleithmann, 60, führt in Helge Schneiders Shows Übungen vor in einem Ganzköperturnanzug und spielt Saxophon. Gleithmann und Schneider haben sich vor 30 Jahren bei Eduscho kennengelernt, dem Kaffeeladen, in Mühlheim. Da hing man rum, wenn nichts los war, also immer.
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Gleithmann ist ein kluger, musikalischer Mann, und er  steht für das Universum des Helge Schneider:

Er ist ein Mann für den zweiten Blick.
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Wer sich den zweiten Blick gönnt, der erkennt auch in Schneider einen der größten deutschen Künstler der Gegenwart. Und der sieht einen Mann, der so ganz anders ist als alle anderen:

Er ist frei. Immer gewesen.

Leider ist Schneider den meisten Menschen als Interpret des Liedes „Katzeklo“ bekannt, und es wäre viel verlangt, in diesem Lied sein Genie zu erkennen (!!), obwohl sich selbst hier Feinheiten verstecken. Es wechselt sehr plötzlich vom 4/4-Takt in den 2/4-Takt.
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Daniel Kehlmanns Rede zur Kleist-Preis-Verleihung an Max Goldt könnte eine Laudatio auf Helge Schneider sein:

„Zu oft gilt der Umstand, dass etwas lachen macht, als Indiz für eine gewisse Mittellage des ästhetischen Werts“.
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Der Komik-Umstand führt zu Missverständnissen.

Zum Beispiel wird Schneider seit Jahrzehnten während des Karnevals für die Kölner Philharmonie gebucht. Die ist dann an jedem Abend voll, täglich kommen mehr als 2000 Menschen kostümiert, aber tatsächlich sind Schneider und der Karneval Gegensätze, die sich kaum versöhnen lassen.
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Im Kölner Karnevalsprogramm hatte sich Schneider eine Perücke aufgesetzt, die aussah wie ein toter Hund. Er war nun ebenfalls verkleidet, und doch passierte etwas anderes als Karneval.

Er begann, das Vibraphon zu spielen, dazu fuchtelte er mit den Armen, als verscheuchte er Fliegen, weshalb zunächst nicht auffiel, welches Gebilde aus Tönen sich da aufbaute. Fuchtelnd, hampelnd und grimassierend ließ er Jazz erklingen, wunderbare Musik, zugleich parodierte er den genialen Lionel Hampton, indem er ihn übertraf, es war eine Nummer, in der Komik und Kunst nicht nebeneinander standen, sondern eins wurden.
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Der Werbeslogan: „Keine Kompromisse“, ist der Traum des Büro- und Arbeitsmenschen, der nach der Maloche einschließlich der üblichen Demütigungen müde nach Hause kommt. Wenn er am Abend die Kraft aufbringt, statt zum Biertrinken in ein Konzert von Schneider zu gehen, dann sieht er einen Mann, für den das kein Traum ist. Sondern das Leben. Er sieht einen Mann, der sich seine Freiheit nimmt und auch viel Freude verbreitet. Die Menschen pilgern in Schneiders Shows auch weil es befreiend ist, trostreich, dass es einen derart freien Mann nicht nur in der Werbung gibt. 

Anders als seine Band, reist Schneider auf Tour in seinem großen silbernen Wohnmobil. Er empfängt eher selten Gäste, gelassen vor diesem Mobil auf einem Hocker sitzend. Er ist dann höflich, nachdenklich, bestimmt. Über seine Musik, seinen Stil, seine Kunst spricht er in klaren Sätzen, er weiß ja, was er da macht:

„Das alles hat viel mit Timing zu tun. Ich spiele Sachen nie viel weiter, als es nötig ist. Um immer auch darüber zu stehen.“

Fragt sich, welche Musiker in der Lage sind, gemeinsam mit ihm über der Musik und also den Dingen zu stehen. 

Den Gitarristen Sandro Giampietro fand Schneider vor fast 16 Jahren in Oldenburg. Schneider kann im Grunde jedes Instrument spielen, also kauft er unzählige, die er auf seiner Ranch bei Mühlheim lagert; in Mühlheim wurde er 1955 geboren, er lebt dort bis heute... In einem Musikgeschäft in Oldenburg hat Schneider die alte Fender des Gitarrenlehrers Sandro Giampietro gekauft und den Gitarristen gleich mit.
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Giampietro, 42, dreifacher Vater, ein bedächtiger Mann: „Für 80 Prozent aller Musiker wäre es eine Katastrophe, mit Helge zu spielen. Oft proben wir etwas, und in der Show ist es dann anders. Oder er spielt plötzlich ein Lied, das ich nicht kenne. Das muss ich im laufenden Betrieb heraushören
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Helge sorgt für Katastrophen. Wenn es zu gut läuft, wird ihm langweilig.“ Es ist Schneiders permanente Suche nach der Katastrophe, die seine Band belebt – und zusammenhält.
 

Rudi Olbrich, der 75 Jahre alte Bassist, seinen Bass besitzt er seit 1956: „Du musst hier immer wach bleiben. Und du musst immer MUSIK machen. Es geht bei Schneider nie um Musik. Es geht um MUSIK.“ 

Schneider: „Das Thema ist nie: Helge Schneider präsentiert sich. Das Thema ist: Helge Schneider präsentiert seine Musiker. Ich preise sie an.“ Im Gegenzug müssen die Musiker damit umgehen, dass es Schneider jederzeit einfallen kann, ein Stück zu beenden oder zu spielen wie noch nie...: „Ich bin der Vorsteher.“
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In der Alten Oper in Frankfurt rief er in den Saal: „Willkommen im Loch! Was fehlt denn hier?“ und antwortete selbst: „Fenster.“ Als er im Anschluss die Band präsentierte, sagte er sanft: „Hier sind die Fenster zur Welt.“ 

Es gibt Menschen, die Schneiders Auftritte für verstörend halten. Was soll Kunst daran sein, wenn einer Unsinn redet..., wenn einer aufbaut, zerstört, neu erfindet, wenn einer auf schöne Melodien großen Schwachsinn spricht, singt und trällert?

„Genau das“, wäre eine Antwort.
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Helge Malchow, seit 20 Jahren mit Schneider befreundet und als Verlagschef von Kiepenheuer & Witsch der Verleger seiner Bücher:

„Ich glaube, dass Helge Schneider ein ganz großer Künstler ist. Komponieren, Instrumente spielen, schreiben, zeichnen, reden, sich bewegen: Es ist immer dieselbe unbändige Energie am Werk, eine Dauerimprovisation, die aus dem Jazz kommt, und die Helge Schneider insgesamt definiert.“ 

Dauerhaft zu improvisieren ist unmöglich, ohne einen festen Boden zu haben... Schneider hat diesen festen Boden, er gründet sich als Künstler und als Mensch auf Freiheit und Fürsorge..., letzteres in dem Sinne, auch in den schlechten Zeiten für seine Crew da zu sein, und dass er selbstverständlich einen Mann wie Gleithmann zu einem Mitglied seines Ensembles macht. 

Was würde Gleithmann ohne Schneider machen?
„Nix“, sagt Gleithmann.
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Schneiders Freiheit besteht darin, dass er niemanden überzeugen will von dem, was er tut.

„Wenn die Leute darüber nicht lachen können oder das blöd finden, habe ich dafür Verständnis. Ich würde aber trotzdem nicht die bevorzugen, die immer über alles von mir lachen können. Ich mache das ja auch für die, die das nicht lustig finden.
Das ist es ja.“
 

Malchow nennt die Show Helge Schneiders eine „Freiheitsperformance“.

„Perfektion springt immer in Zwang um, weil man sie an jedem Abend wiederholen muss... Schneider ist Pedant, er weiß genau, was wann wie klingen soll, und er strebt in diesem Sinne durchaus nach Perfektion. Er tut das jedoch an jedem Tag auf andere Art und Weise.

Das ist sein Trick – und seine Weisheit.
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Gleithmann, der in Wahrheit Volker Bertzky heißt:

„Helge und ich haben im selben Haus gewohnt. Er im Erdgeschoss, ich eins drüber. Helge kam nachts von Auftritten nach Hause, spät, und weißt du, was er dann gemacht hat? Helge hat sich ans Klavier gesetzt. Jeden Abend. Und dann hab ich alles in meiner Wohnung ausgemacht, was ein Geräusch machen konnte, sogar die Heizung, alles, und dann hab ich ihm zugehört.
Und das war so ein Genuss.“
 

Helge Schneiders Musik klang wohl damals schon schön und leicht und frei. Weil er sie zu den selben Bedingungen spielte wie heute: zu seinen.


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Held der Freiheit
Der Entertainer Helge Schneider macht seit Jahrzehnten ausschließlich das, wonach ihm der Sinn steht. So wurde er zu einem großen Poeten, wunderbaren Jazzmusiker – und offenbar sogar zu einem guten Menschen. 

Von Christian Zaschke 

Süddeutsche Zeitung
2011-04-11


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