Sechzig Jahre TV-Geschichte

Die Realität verschwindet hinter der Masturbationsvorlage -
Triumph der Einschaltquote über Qualität und Kultur 

Von Roger Willemsen 

...der ehemalige ARD-Chef Struwe: „Unsere Kulturfreunde“ werden von uns „besser bedient als unsere Basketballfreunde.“ Man darf die Kultur weder Fernsehdirektoren noch Fernbedienungen überlassen. 

Kultur ist Überforderung, ist Konfrontation mit Nicht-Verstehen im Dienste der Mündigkeit, wenn nicht der „Empormenschlichung“ (Musil). 

Gewiss: Vor die Wahl gestellt, den Abend mit Faust oder mit Klum zu verbringen, entscheidet sich der Bildverbraucher lieber für das Belanglose. Eben!, triumphieren die Fernsehmacher, „höhere Ansprüche“ sind elitär, der Mensch ist ein Klotz, und Kultur „funktioniert nicht“ im Fernsehen. Was „funktioniert“, sind Bauer samt Frau. Als Folge für solch selbstbewusste Barbarei liest sich der Rundfunkstaatsvertrag inzwischen wie eine Satire auf das Fernsehen, das er finanzieren und schützen helfen soll, und wenn es eine Medienpolitik gäbe – also eine Politik ohne Angst vor den Medien -, es hätte sich die reale Vielfalt der Außenwelt sogar ins Fernsehen retten lassen. 

Theodor W. Adorno sagte ehemals mit Blick auf das Fernsehen, Kulturindustrie böte am Abend denselben Alltag nur noch einmal an. Es reflektiert nicht, es reproduziert. Im Kern ein kindliches Medium, greift es auf Stereotype zu, vermeidet Abstraktion und begleitet seine Bilder gern indem es sie rhetorisch verdoppelt. In seiner Psychologie, seinen Handlungsabläufen und Konfliktlösungen muss man sich sofort auskennen und sich am besten auch selbst reibungslos in eine Daily Soap integrieren können. 

Sechzig Jahre deutsche Fernsehgeschichte, das sind auch sechzig Jahre Knechtung des Fernsehtraums durch die Diktatur der Einschaltquote. Sie regiert und thront doch auf einer Lüge: Gute Quoten entstehen ja nicht durch massenhafte Zustimmung, sondern oft eher durch Konträrfaszination. Die Mehrheit der Zuschauer sitzt dann da, gebannt vom Peinlichen und befangen in dem pharisäischen Gefühl, glücklicherweise nicht zu sein wie jene dort. Nicht die sympathischste menschliche Regung. 

Ach ja, solange es Fernsehen gibt, gibt es die Klage über seine dürftige Qualität. Zuschauer reden gern, als sähen sie anstelle von Game-, Talk- und Kuppelshows am liebsten ganztägige Auslandsjournale; wäre es so, müsste Arte Marktführer sein. Marktführer. Solche Empörung gegen das Programm ist eine unaufrichtige Form der Selbstkritik. Der Zuschauer will sich unter seinem Niveau amüsieren, es aber nicht getan haben, und so muss man im Spiegel der Quoten-Protokolle bedauernd feststellen: Das Publikum ist zumindest als Zielgruppe nicht dümmer oder klüger, es ist exakt so klug oder dumm wie das Programm. 

Wäre es anders, müsste ja jemand kommen und sich aus guten Gründen für die schlechtere Quote entscheiden. Er könnte, statt sich wie die ARD auf unrettbaren Programmplätzen Bruce Darnell zu leisten, dort genauso erfolglos Oper zeigen. Auf die Idee käme man gar nicht... 

...“Die wahre Antidemokratie ist die Massenkultur“, hat Pier Paolo Pasolini gesagt. Die Verführung dieser Kultur besteht eben darin, den Massen im Namen der Massen ihre eigentlichen Interessen abzukaufen, also etwa das Interesse an einer besseren Orientierung in der Welt. Wollte das Fernsehen den Nahost-Konflikt einmal mit der Intensität eines Formel-1-Wochenendes bei RTL aufbereiten, er ließe sich sogar verstehen. Solche Minderheiten-Ansprüche finden die Macher „arrogant“, sagen aber selbst am liebsten „das können wir unserem Zuschauer nicht zumuten“. Diese Form der Arroganz heißt „Popularität“... 

...Das Medium ist heute weniger durch das definierbar, was es zum Erscheinen, als durch das, was es zum Verschwinden bringt. So verschwinden aus dem Fernsehen Kontinente des Wissens, Arbeitens und Gestaltens, verschwinden Menschen ohne telegene Schauseite oder ohne die Fähigkeit, den populären Sprechformen des Fernsehens, einem digitalen Sprechen in raschen Ja-nein-Impulsen, zu genügen, verschwinden die komplexeren Erzählformen, denn drei Handlungsstränge sind für eine gute Quote zur Primetime zu viel. Es verschwindet die Realität hinter dem Schaufenster-Arrangement, der Bildtapete, der Masturbationsvorlage. 

In den Gründerjahren des Fernsehens träumte man davon, die wichtigsten Dinge allen sagen zu können, heute realisiert man, dass nur die belanglosesten massentauglich sind... 

...“Das Fernsehen hat immer nur Vergessen produziert“, hat Jean-Luc Godard, selbst ein vom Fernsehen Vergessener, gesagt. Aber es hat sich auch selbst vergessen und treibt ohne andere Utopie als die Massenwirkung zwischen überkommenen Formen des Informierens und Unterhaltens ziellos umher. 

Wer noch ein inneres Leben hat, wer alt, traurig, krank, kritisch, kompliziert oder aus sonst einem Grunde individuiert ist, wird die Realität des Fernsehens betrachten wie die eines anderen Kulturraums. Ihm fehlen im Fernsehen die Bilder und vor dem eigenen Gerät fällt ihm nur ein zu stöhnen: Das bin nicht ich. 

Exzerpt von Karlheinz


Wer den vollständigen Artikel lesen möchte, gehe zu:

Als die Fernsehwelt noch heil war

Sechzig Jahre TV-Geschichte, das sind auch sechzig Jahre des Triumphs der Einschaltquote über Qualität und Kultur
von Roger Willemsen
DIE ZEIT Nr. 31, 2009-07-23


Roger Willemsen, 1955 in Bonn geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Er arbeitete als Nachtwächter, Reiseleiter und Museumswärter. Er promovierte über die Dichtungstheorie Robert Musils, ehe er 1988 als Korrespondent für Zeitungen und Radiosender nach London ging. 1991 wird er Moderator des Magazins 0137 bei Premiere, ein Talkmaster der etwas anders ist als die anderen. Seine Gesprächsführung, sein Einfühlungsvermögen bringen ihm 1993 den Grimme-Preis in Gold ein. Die Jury lobte: Willemsen setzt als einer der wenigen im deutschen Fernsehen die Sätze grammatikalisch korrekt hintereinander.


nach oben

.