Ständig Neues bringen –
die Seinslüge des Pop

Alter Scheiß, günstig produziert, Minderjährigen und Minderbemittelten als "Neues" angedreht

von Karl Bruckmaier,
leicht bearbeitet von Karlheinz Damerow

Wenn Ai Weiwei eine seiner tausend Jahre alten Vasen fallen lässt und dies mit welcher Technik auch immer abgebildet wurde, dann ist diese Vase längst nicht kaputt, auch wenn sie auf dem Boden zerschellte. Ein Klick zum Anfang dieses „Films“ und Ai hält die Vase im Bild ihres unversehrten Zustands wieder als Ganzes in Händen. So auch im Pop: Ein Musikstück, das einmal technisch reproduzierbar festgehalten wurde, ist von nun an verfügbar, in gewisser Weise unzerstörbar.

Seit der ersten aufgeschriebenen Note, seit der erste Dorn, von Schall moduliert, in Wachs gedrückt wurde, quietschen Tenöre, klimpern Klaviere, leidet der Blues, jodelt der Cowboy, rockt und rollt es von den Beatles über Edith Piaf bis Madonna in Ewigkeit, amen.

Über all dies, wie auch immer Verfügbare, wird denn auch permanent verfügt. Womit sich ein Paradoxon des Pop widerlegt, Pop habe stets und ausschließlich DAS NEUESTE zu sein. Musik zur Zeit, wie es einmal geheißen hat.

Dieses „Neueste“ ist inzwischen nicht nur ein Nischenprodukt unter vielen, ein möglicher Zustand unter all den Zuständen, die Pop sein können (J.-C. Rabe), sondern eine seiner Warenform geschuldete Seinslüge.

Geschaffen, das Taschengeld von Minderjährigen und Minderbemittelten abzugreifen, war Pop von Anfang an nur die verkleidete Form bereits existierender Stile, wie etwa des des Rhythm’n’Blues, der Jazz-Ballade, des Country & Western, des Folk. Nur war das der blutjungen Kundschaft nicht bekannt.

So konnte der Teenager-Kundschaft der vierziger und fünfziger Jahre „alter Scheiß“, günstig produziert, als etwas“Neues“ angedreht werden, bereichert um etwas „Neusprech“ und ein klein wenig Sex. Verfügte sie doch über kein Aufschreib-System, das sie hätte über den Irrtum aufklären können, das vermeintlich als „ihr Neuestes“ Erworbene sei etwas anderes als eine Variation bereits vorhandener, "alter" Musik.

Die Musiker selber wussten das.

Als in den Elvis-Sessions bei Sun Records „Blue Moon Of Kentucky“ von Presley eingespielt wurde, freuten sich die Anwesenden: „It’s a Popsong!“.

Und Keith Richards auf der anderen Seite des Atlantiks sagte in ganz frühen Interviews immer wieder, dass die Rolling Stones die Musik der Schwarzen aus den USA spielen, nur schneller – „… und, wir sehen besser aus!“

Als Pop in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann, mit Folk Revival, Pop Art, Rock-Opern, Straßenschlachten und Festivals „erwachsen“ zu werden, musste das Hipster-Erbe, das sich in Pop ausdrückte – stets der am besten Informierte, der am besten Gekleidete, der weltanschaulich Fortschrittlichste zu sein – in neuen Begriffsbildungen zum Ausdruck gebracht werden.

Die schnelle und wissende Bewegung durch die Zeit war das Ziel, die Überwindung des Gestern, ein blutiger Un-Ort für die Europäer, ein dunkler Dachboden voller Mythen für die Amis.

Zu einer derartigen pausenlosen Umschreibung in Höchstgeschwindigkeit schien ausschließlich und in aller Zukunft der junge Körper fähig: „Forever Young! – Trau‘ keinem über dreißig! – Do thoust you willst! – Live Fast, Die Young!“

Aus dem ursprünglichen Marketing-Konzept Jugend wurde so eine Ideologie, welche die Jugendlichkeit zum verbindlichen Dauerzustand des Pop erklärte. Doch auch hier verrät uns ein Blick auf das Medium das Falsche im Richtigen: Während sich „das Neue“ immer noch im schnellen Teenager-Format Single manifestierte – Disco, Glam, Pop, Punk – etablierte sich das Format Album als DIE Mitteilungsform für Pop-Künstler.

Dauer setzte ein, Entschleunigung. Wiederholbarkeit. Von Werken war die Rede. Von einem Erbe. Von Kunst. Zwar verschwanden auch die LPs nach kurzer Zeit vom Markt, doch bald tauchten dafür erste Doppel-LPs auf, die jene „verschwundene“ Musik erneut und zu günstigeren Konditionen zugänglich machten: Ein sekundärer Verwertungs-Zyklus setzte ein, der mit der CD den Status der Normalität erreichte.

Größerer Speicherplatz mit geringeren nutzungsbedingten Qualitätsverlusten, aufgebrezelt mit informierten Kommentaren im Booklet, philologischer Betrachtung der Entstehungsgeschichte der jeweiligen Musik, Biographisches, Wirkungsgeschichtliches, Bilder, Raritäten, abweichende Fassungen, Mono-Abmischungen, Demo-Aufnahmen …

Pop als linearer Ablauf, als kulturelle Entwicklung parallel zum Erwachsenwerden einer Generation hörte in den achtziger Jahren auf zu existieren. Auf die Zersplitterung der „Jugendkultur“ folgte ein Pragmatismus der Gleichwertigkeit. Distinktion, Unterscheidbarkeit ging für immer flöten, indem sie bis zur Unkenntlichkeit eingefordert wurde. Heino war plötzlich neben Frank Sinatra und Death Metal: irgendwie erlaubt. Anything sells.

Pop verlor seine gemeinsame Sprache, wurde wortlos, aber immer lauter. Der ganze Körper(-Einsatz) war mehr gefragt denn je. TechNO, House. "Schriftsteller"(welche z.B.?) sorgten jetzt mit flankierenden Worten für den ideologischen Halt, vorwärts– wo immer das auch sein mag –, vorwärts aber um jeden Preis. Man konnte den Eindruck gewinnen, jeder Mitredende im Pop-Spiel sei dazu verdammt, schon heute zu wissen, wovon man übermorgen in Detroits Clubs träumen wird.

Die Definitionshoheit der schnatternden Hipster traf in Deutschland, den USA, in Großbritannien das gemeine Pop-Volk mit ganzer Härte: Wer nicht mitmachen wollte bei dieser sinnfreien, nur noch die eigene Bedeutung(slosigkeit) glorifizierenden Hetzjagd durch den immer schmaler werdenden Canyon des „Neuen“, hatte nur den Gnadenschuss zu erwarten: Du Nick Hornby.

Alte Musik durfte – wenn überhaupt – nur noch als Wissensspeicher herhalten, als (selbstverständlich nicht zitierte?! Geheim?) Quelle, aus der man bei der Klassifizierung oder Fabrikation von „Neuem“ schöpfen konnte (Hip-Hop). Jeder Flohmarkt konnte zur Schatzinsel werden, jedes verrauschte Original aus den Ramschkisten zum Rädchen im Perpetuum mobile dieser Pop-Hipster, die in ihrem Definitions- und Erklärrausch bis heute nicht wahrhaben können und wollen, dass, würden sie sich auf ihrer „wilden Jagd“ umblicken, niemand mehr hinter ihnen ist. Nur Wüste.

Das noch am ehesten so zu bezeichnende „Neueste“ findet sich heute vermutlich im Internet, in Blogs, auf YouTube. Aber die meisten Pop-Fans – und Fans sind sie noch immer – interessiert es nicht mehr wirklich.

Das „Neueste“ ist oft genug wieder nur das, was minderjährige und minderbemittelte Teenager gerade individuell für sich als das „Neueste“ entdecken. Schon tausendmal vor ihrer Geburt erzählte Witze, tausendmal in mehr oder weniger „neuen“ Versionen „komponierte“ Lieder, Posen, die vor ihnen schon nahezu jeder eingenommen hat … so ist das „Neueste“ 2011 wieder in den Fünfzigern angekommen.

Ein großer Teil der Schuld am Verlust der Relevanz von Pop als Anzeiger des Zeitgeistes liegt bei der Musikindustrie selbst, die jedes Interesse am Inhalt ihrer Ware verloren hat. Aber auch die „wilde Jagd“ der „Sinnstifter“ trägt Verantwortung. Dass die jahrzehntelang das Beste, was Pop hervorgebracht hat, zugunsten marginaler Ausdifferenzierungen oder lächerlicher Eintagsmoden ignoriert oder gar abgeschrieben haben, verzeiht das Leben auch im Pop nicht so leicht.

Der Jugendlichkeits-Fetisch, die Vitalitäts-Religion machte es ihnen unmöglich zu erkennen, dass die tatsächliche Jugend heute mit großer Liebe und Hingabe die Musik eines Bob Marley, eines Johnny Cash, von Motörhead oder Black Sabbath hört, New Order oder die Undertones herunterlädt – denn geborgen und gespeichert im Medium ist dies immer noch Musik von jungen Leuten.

Und was davon gut ist, kann heute ebensolche Wunder wirken wie „einst“: Die „Teenage Kicks“ riechen immer noch nach „Teen Spirit“.

Und die ältere Generation? Sie widersetzt sich dem Diktat allfälliger Beweglichkeit, indem sie der avancierten Kritik zum Trotz so verpönte Box-Sets, Luxus-Editionen oder Best-of-DVDs in stetig zunehmendem Maß kauft (nicht klaut!!!).

Was hat es schließlich schon gebracht, sich nicht mit Dingen und Menschen zu umgeben, sich nicht zu denen zu bekennen, die man liebt?

Man wird doch von Arbeitgebern nur noch rücksichtsloser durch die Arbeitswelt und um den Globus gescheucht, jetzt, wo man alles dafür getan hat, frei und ungebunden zu sein und es stets mit den Jungen aufnehmen soll und kann.

Die Ideologien der Hipster von vor dreißig Jahren sind das Gesicht der Ver- und der Ausnutzung von heute. Da ist es geradezu ein Akt des Widerstands gegen diese Art als Freiheit getarnten Verfügbarkeits-Irrsinns, zu heiraten, fünf Kinder zu kriegen, ein Haus zu bauen und nie woanders hin als nach Osnabrück in Urlaub zu fahren und sich eine LP-Box mit den Mono-Abmischungen der ersten acht Alben von Bob Dylan zuzulegen.

So ist es Protest, wenn die Charts gerade mit sündteuren oder spottbilligen Editionen von Pink Floyd oder Nirvana verstopft werden, Protest gegen den offenkundigen Schwachsinn, der uns einreden will, dass wir die Untiefen einer Lady Gaga für wichtiger nehmen sollten als einst die Untiefen der Les Humphries Singers. Der Einzug der Philologie in den Pop, mit wissenschaftlicher Textkritik, ist nur ein weiteres Zeichen seines „Erwachsenwerdens“.

Ebenso wie es keinen Grund gibt, sich über einen Bildband von Cy Twombly, die Luxusausgabe der Tagebücher Andy Warhols oder eine Neuübersetzung der „Göttlichen Komödie“ zu echauffieren, so wenig Grund gibt es, über Outtakes der „Loaded“ Sessions von Velvet Underground zu lächeln. Ob die dabei ausgebuddelten Songs in meinem Leben einen Platz finden, ob sie Bestand haben, ist eine Frage, die man auch an das Tagebuch von Thomas Mann stellen kann oder an Musil-Fragmente.

Pop spricht heute zu Zwölfjährigen wie zu den 72-Jährigen.

Einmal die Radiowellen für ältere Hörer einschalten genügt, um zu verstehen, warum die Beatles und selbst Kraftwerk laufen. Die Musik ist einfach um so vieles besser als die von: Bitte nach Bedarf selbst einsetzen.

Pop ist eine ästhetische Lebenswirklichkeit, die uns heute vollends umgibt. Wir leben im Pop. Oder in und mit Dingen, die sich wie Pop verhalten. Die Schlacht ist geschlagen, der Krieg ist vorbei. Die Kavallerie darf einrücken. Keiner muss vorauspreschen. Jeder darf die Eagles hören.

Außer wenn ich im Raum bin. Sonst fliegt eine Vase.

… vermeintlich „Neues“ in der Pop-Musik entsteht immer wieder, … aus dem was vorher da war. Es  muss  sich jedoch zunehmend der Konkurrenz guter Musik der Vergangenheit stellen, die im Internet für alle potenziellen neuen Fans mit einem Klick zugänglich sind. Das macht das Leben für den Pop-Händler nicht eben leichter. Für den Fan und für die Musik ist das gut so.


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Wilde Jagd
Der größte Irrtum der Popmusik ist, dass es ständig etwas Neues geben könnte – das gab es noch nie, und das ist auch richtig so

Von Karl Bruckmaier

SZ, 29./30. Oktober 2011


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