So hat sich Gegenwart nie wieder angefühlt

50 Jahre Beatles

Auszug aus einem Artikel von Thomas Gross 


Zu den vielen Pointen der Ballade von John, Paul, George und Ringo gehört, dass sich die Geburt und Vollendung des Beatles-Mythos an einem Ort vollzog, wo in den vierziger Jahren Weltkriegs-Propaganda hergestellt wurde – elf der zwölf Beatles-Original-Alben entstanden in den Studios an der Abbey Road. Mit Propaganda gewinnt man Kriege. Die Beatles sind die Sieger des Friedens danach.

Die vier Vorstadtkinder aus Liverpool gewannen den Frieden in einem England der späten Fünfziger, eine Nation der steifen Oberlippen, in der Selbstkontrolle alles war. Keine gute Zeit, um jung zu sein, die Politik ein Veteranenverein, die offizielle Unterhaltung lähmend konventionell gemacht von unverdient Privilegierten.

Doch, was über den Atlantik drang, konnten Teenager wie John Winston Lennon, der in einer Bombennacht 1940 zur Welt kam, besonders gut verstehen, wenn da ein gewisser Chuck Berry sang: „Hail, hail rock ’n’ Roll, deliver me from the days of old!“

In den Häfen von Liverpool, dem Waren-Umschlagsplatz des Empire und Hamburg, der Insel der Liberalität trafen die Matrosen ein mit ihrem Informationsvorsprung in Form der Singles von Elvis, Chuck und den anderen. Hier erspielten sich die Beatles ein Repertoire aus alten Rock’n’Roll-Titeln. Mit dem „Pilzkopf“, der mit Hilfe der Fotografin Astrid Kirchherr entstand und der in Wahrheit die Fantasie einer Existenzialistenfrisur war, erschlossen John, Paul, George und Ringo - ähnlich wie wenige Jahre zuvor Elvis - schwarze Musik für weiße Hörer. Im Gegensatz zu den einsamen Solokünstlern der Rock’n’Roll-Ära war ihre Erfolgsformel das Kollektiv.

Wer etwas über das bewegteste Jahrzehnt der Nachkriegsgeschichte erfahren möchte, der solle die Beatles spielen, riet einmal Aaron Copland. Alles, was die Sechziger bewegte, bewegte auch die Beatles, die auf dem Höhepunkt ihres Schaffens für einen historischen Moment Massenkultur und Avantgarde versöhnten.

Als sie sich trennten, war nichts, wie es zuvor gewesen war. All das ist in ihrer Musik konserviert. Bereits die ersten Kompositionen des zentralen Songwriterpaars Lennon und McCartney übertrafen ihre amerikanischen Vorbilder an überraschenden Wendungen und melodischen Einfallsreichtum bei Weitem.

Wer allerdings angesichts eines Songs wie I Want To Hold Your Hand nur etwas von Musik versteht („Tonika-Subdomedianten-Übergänge von C-Dur nach a-Moll“), der versteht auch davon nichts. In den Miniatur-Epen der Beatles kündigt sich nämlich der Aufbruch einer Epoche an, die neue Permissivität (Freizügigkeit) der sexuellen Revolution, die Befreiung von hierarchischen Denkmustern und die Hier-und-jetzt-Mentalität der aufkommenden Gegenkulturen. Zwischen der naiven boy meets girl-Thematik des Frühwerks und dem fröhlichen Hedonismus der Swinging Sixties liegen nur ein paar Jahre. LSD trifft Maoismus, das Erbe des Blues trifft auf „that Stockhausen stuff“ (McCartney).

Während konservative Hass-Prediger ihre Songs auf der Suche nach satanischen Botschaften rückwärts abspielten, machten die Beatles in Wahrheit Werbung für die Werte eines neuen, vom Ballast der Vergangenheit befreiten Westens.

In ihrem Popstar-Modell ersetzten sie das einsame, alt-europäische Komponieren durch das freie Wechselspiel ihrer Temperamente. Vor den Beatles machte man einfach Aufnahmen. Mit den Beatles wurde das Aufnehmen zur Kunst.

Die Abbey Road Studios in den frühen Sechzigern muss man sich als traditionsreichen, aber in Ehrwürdigkeit erstarrten, insgesamt geistlosen Ort vorstellen. Die Tontechniker trugen weiße Kittel, sprachen gepflegtes Oxbridge und hatten sehr exakte Vorstellungen, wo man ein Mikrofon hinstellt.

In dieser wenig inspirierten Atmosphäre begannen die erfolgreichen Teenybopper-Idole, mit technischen Tricks zu experimentieren. Von Revolver über Sergeant Pepper bis zum Weißen Album lernten die Beatles das Studio als Instrument zu entdecken, ein Quantensprung artistischer Nutzung von Technologien im Pop.

Ein Veteran der britischen Luftwaffe begleitete sie auf ihren Klangexpeditionen. Sir George Martin, genannt der „Herzog von Edinburgh“, gebührt der Ehrentitel „fünfter Beatle“. Sein Know-how als Produzent ließ die Beatles am Mischpult abheben.

Mit den vorsintflutlichen Mitteln des Abbey Road Studios produzierte „Big George“ so manchen Lennon-Krächzsong zum Geniestreich aus und in der Spannung zwischen orthodoxer Aufnahmetechnik und Beatles’schem Experimentierdrang vermittelte er: Für A Day In The Life wollen sie ein ganzes Orchester – Martin: Ein halbes tut’s auch – Lennon will für die Kirmesatmosphäre von Being For The Benefit Of Mr. Kite eine Dampforgel – Martin collagiert Tonbandschnipsel zu einer Schleife – die Beatles wollen unbedingt zwei Liedteile in unterschiedlichen Tonarten zusammenbringen – Martin rechnet ein bisschen, dreht an der Zeitachse und besorgt ihnen den „Schnitt des Jahrhunderts“.

So zerfällt auch die Zeit in eine Rechnung vor und eine nach Sergeant Pepper. Im Gelächter ausgerechnet am Ende des ernstesten Stücks, Within You, Without You, geht die Nachkriegsära heiter zu Ende. Die Fantasieuniformen und Empire-Schnurrbärte waren nicht Ausdruck seriöser Militarismus-Kritik, sondern Ergebnis eines ausgeprägten Sinns für Komik, der die Beatles vom schlichten Heroismus amerikanischen Rocks trennt.

Wenn Elvis dem Pop einen Körper gegeben und Bob Dylan ihm den Geist gebracht hat, dann sind die Beatles ein Verein zur fröhlichen Bedeutungs-Zerstreuung: Improvisation statt Ergebnisorientiertheit, Gleichzeitigkeit statt Linearität, Bewusstseins-Ströme anstelle fester Standpunkte. Vergeblich sucht man in ihren Songs nach identifizierbaren Botschaften, alles ist im Fluss, denn „nothing is real“.

Let It Be, das einzige nicht von George Martin produzierte Album, ist der ebenso verzweifelte wie vergebliche Versuch, als schlichte Live-Kapelle von vorn zu beginnen. In Abbey Road, das ihre Trennung besiegelt, in diesem Abschied ist alles enthalten, was John, Paul, George und Ringo zur Legende werden ließ, die Utopie der sechziger Jahre – der Glaube, dass man als Kollektiv mehr erreicht und die Einsicht, dass Kollektive nicht halten.

John Lennon konnte die Geister der Vergangenheit nie abschütteln, schloss sich in sein New Yorker Apartment ein, vor dessen Pforten er an einem Wintertag des Jahres 1980 von einem geistesgestörten(?) Fan Mark Chapman erschossen wurde.

George Harrison kehrte innerlich nie wieder von seinem Indien-Trip zurück und starb 2001 an Krebs.

Ringo Starr begann eine Odyssee durch die Nachtklubs der Welt, lebt heute in den Bergen von Hollywood und ist einfach nur berühmt.

Der tragisch-triumphale Überlebende der Legende von den Fantastischen Vier ist Paul McCartney. Auf seiner Never Ending Tour zelebriert er als ruheloser Bote aus mythischer Vorzeit mit wechselnden Mietmusikern Beatles-Messen, die den Optimismus einer Ära des Aufbruchs in Liedern feiern, die gerade weil sie keine Botschaft haben, alles bedeuten können.

Wer hat denn gesagt, dass das Glück kein warmes Gewehr ist? Ist die Straße vor uns etwa nicht endlos lang und gewunden?...

„There’s nothing you can do that can’t be done“: So jung und veränderbar hat sich die Gegenwart nie wieder angefühlt.


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Heilige Familie des Pop
Vier Einzelgänger triumphierten als Kollektiv: Vor 50 Jahren wurden die Beatles gegründet, und der Kult um John, Paul, George und Ringo nimmt kein Ende
von Thomas Gross
DIE ZEIT, No 32, 5. August 2010


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