Café Zifferblatt

Ulitsa Pokrowka 12,
Eingang im Hinterhof,
Café in der 2. Etage

Moskau


aus Artikeln von
DIANA LAARZ
und
FRANK NIENHUYSEN


Moskauer Rhythmus, wie er allenthalben herrscht: In pseudo-französischen, pseudo-italienischen und pseudo-wienerischen Cafés reißt ein mauliger Kellner dem Gast schon den Teller unter der Nase weg, während der noch den letzten Bissen Kuchen auf der Gabel balanciert und fröhlicher Pop aus großen Flachbildfernsehern plärrt.

Das Café Zifferblatt liegt versteckt im Hinterhof. Keine Reklametafel, an der Tür des Hofeingangs baumelt lediglich ein Pappschild. Im zweiten Stock betrete ich ein betagtes Wohnzimmer und habe sofort das Gefühl, in eine Geheimloge geraten zu sein.

Natascha schreibt "Frank, 11.20 Uhr" auf einen weißen Zettel und hängt ihn an die Pinnwand hinter dem Ausschank, direkt neben "Nina und Katja, 10.55 Uhr" und "Sergej, 11 Uhr". Sie öffnet einen antiken Küchenschrank, der gefüllt ist mit Dutzenden Weckern und Uhren, die alle etwas gemeinsam haben, sie haben einen Namen, und sie funktionieren nicht.

Symbolik spielt eine große Rolle im Café Zifferblatt. Jeder Gast stellt auf seinen Tisch eine Uhr, auf der die Zeit stehen geblieben ist. Es gilt die Regel, die widersprüchlich klingt und doch zu funktionieren scheint: Die Zeit zu vergessen, obwohl sie den Preis bestimmt.

Den Möbeln fehlen hier und da ein paar Holzsplitter, aber das tut ihrer Würde keinen Abbruch. Die Gäste sind jung, sie sitzen in knarzenden Lehnstühlen, lümmeln sich auf dem Diwan oder schaukeln im Schaukelstuhl.

Das Personal ist von den Gästen nur dadurch zu unterscheiden, dass es in aufreizender Langsamkeit Krümel von den Tischen wischt. Ein junger Mann spricht mich an, das lange Haar zum Zopf gebunden, Wollpullover, in jeder Hand einen Butterkeks, die Reste des dritten im Mund. "Zum ersten Mal hier?" und lädt mich zu sich und seinen Freunden an den Tisch ein.

Auf allen Tischen im Zifferblatt stehen Wecker, Liebhaberstücke vom Flohmarkt, oft ohne Zeiger. Sie stehen für das kostbarste Moskauer Gut: Zeit. Und sie stehen für das Konzept des Cafés.

Zwei Rubel kostet jede Minute. Man könnte sich also streng ökonomisieren. Einen geschäumten Caffé Americano bestellen, in zehn Minuten austrinken und schnell wieder gehen. Das wäre ein kleines Geschäft. 50 Cent für einen Kaffee oder Cappuccino oder Caffè Latte, da zahlt man sogar in Archangelsk oder in einem burjatischen Dorf-Café mehr.

Und das hier ist Moskaus protzige, achtspurige Twerskaja-Straße, wie ein Niagara-Fall, ein rauschender 24-Stunden-Strom zwischen Puschkin-Platz und Kreml, wo wuchtige Balkone und verspielte Erker über teuren Boulevard-Läden hängen.

Im Café Zifferblatt sitzen die Gäste zwischen Singer-Nähmaschinen, Couch und Korbstühlen, Puschkin-Bild und Jack-London-Büchern, Klavier und stoffbezogenen Stehlampen mit Fransen. Verteilt auf neun kleine Zimmer, die ein Ambiente bieten aus Künstler-Café und Omas Wohnzimmer.

Im Zifferblatt geht es nicht um zügigen Konsum, sondern um stressfreies Verweilen. Deshalb bezahlt man für die Zeit, die man bleibt, nicht für den Kaffee. Zwei Rubel kostet die Minute, das sind etwa drei Euro pro Stunde, dafür bekommt man in anderen Moskauer Cafés nicht einmal einen Cappuccino.

Am Tresen wird notiert, wann man angekommen ist, danach darf sich jeder selbst bedienen. Es gibt verschiedene Kaffeesorten, Tees aller Art, Kekse und Obst.

Aber natürlich geht niemand ins Zifferblatt, um möglichst rasch möglichst viel zu trinken oder zu essen. Hier trifft man Freunde, die man ein paar Stunden zuvor noch gar nicht kannte.

Wie lange will man hier bleiben? Zwei Rubel für eine Minute, das sind 120 Rubel für eine Stunde, etwa drei Euro. Dafür gibt es Kaffee, Tee, Kekse und Toastbrot so viel man möchte. Der Nachschub an Wasser steht in einer Karaffe neben einem Dutzend Teesorten. Und es gibt die Gewissheit, dass nach vier Stunden niemand mehr die weiteren Minuten zählt. 480 Rubel, zwölf Euro, das ist die Kappungsgrenze.

Wer ins Zifferblatt kommt, möchte nicht hetzen, rechnen, ob eine Tasse mehr noch drin ist oder ob er doch lieber schon bezahlt und geht. Er hat sich vorher eine klare Vorstellung davon gemacht, wie lange er bleibt. Und will dann seine Ruhe haben.

Lewon Oganjan ist ein bärtiger junger Mann in Jeans und T-Shirt, ein Ingenieur-Student, dessen Wecker seit 11 Uhr tickt. Aber er nimmt sich Zeit, die er in Moskau schnell verlieren kann. Er trifft sich mit seinem Mitstudenten Anatolij und füllt nun schon den fünften Teebeutel in eine Schale. Zwischen zwei Veranstaltungen an der Uni hat er ein paar Stunden frei, aber allein drei Stunden bräuchte er, um nach Hause zu fahren und wieder zurück.

Iwan Mitin, 27 Jahre alt, ein schmächtiger, zarter Russe, hat, ohne viel Erfolg, als Schauspieler und Künstler gearbeitet. Nun ist es sein Glück und sein Unglück, dass sein jüngstes Projekt, das Zifferblatt, ein echter Erfolg geworden ist.

Bevor Mitin das Café vor eineinhalb Jahren aufmachte, druckte er Auszüge aus Puschkin-Büchern auf Karteikarten, laminierte sie und verteilte sie in der Moskauer Metro.

Lewon ist deshalb fast jeden Tag hier, nimmt sich am liebsten Girej, die kleine Gipsuhr und liest in seinem E-Book, schreibt Mails, unterhält sich, isst Kekse, trinkt Tee. „Hier kann ich entspannen, ohne gedrängt zu werden, wie das in Moskau üblich ist, sobald die Tasse leer ist“, sagt er. Es ist 12.15 Uhr, er ist anderthalb Stunden hier und bezahlt jetzt 150 Rubel.

Maria, die bei einer Moskauer Medienfirma angestellt ist, hat gerade an einem Ecktisch einer Frau eine ganze Stunde lang eine private Zeichenstunde gegeben. Jetzt klappt sie den Laptop auf und fängt an zu arbeiten. „Niemand stört“, sagt sie und meint die Bedienung, die es im Zifferblatt nicht gibt. „Und hier zu arbeiten, mitten im Zentrum, spart auch noch Zeit.“

Zeit sparen in Moskau. Die Menschen versuchen das immer wieder. Die in ihrer Länge und Breite monströsen Straßen, die gewaltigen Häuserblocks, die sich oft mehr als 100 Meter hinziehen, sie verführen dazu, zu beschleunigen. Man erinnert sich an die Geschichte „Momo“, in der Beppo Straßenkehrer dem Kind von der langen Straße erzählt, die niemals zu enden scheint, weshalb die Menschen sich beeilen, weil sie kein Fortkommen spüren.

"Wir haben", stand da zum Beispiel, "so lange so viel mit so wenig vollbracht, dass wir inzwischen in der Lage sind, alles mit nichts zu erreichen".

Schon damals wollte Mitin die Moskauer mitten in der Rushhour zum Innehalten und Nachdenken zwingen. Dann besann er sich, verließ die Metro und lud stattdessen zum Nachdenken ins Café.

Mitin glaubt, dass die Seele der Russen von Angst beherrscht wird. Angst mache die Menschen unerbittlich gegenüber sich selbst und anderen. Angst sorge für Misstrauen und Einsamkeit.

"Früher hatten alle Angst vor Stalin, dann vor den Kommunisten, jetzt haben die Russen mehr Angst als je zuvor", sagt er. "Sie fürchten sich vor der Willkür der Staatsmacht, aber auch vor dem Verlust ihres bescheidenen Wohlstands. Das macht sie so rastlos."

Das Prinzip des Zifferblatt hat seine Anhänger und seine Nachahmer. Es gibt bereits eine Reihe sogenannter Anti-Cafés, die ebenfalls in Minuten und in Stunden abrechnen. Aber Iwan Mitin war der Erste. Ich treffe ihn in der Nachbarschaft des zweiten Moskauer Zifferblatt-Cafés, eigentlich nur zwei Metrostationen entfernt. Und doch eine Dreiviertelstunde.

Es geht durch einen Innenhof, eine eiserne Wendeltreppe hinauf in einen Raum, der an eine unaufgeräumte Studentenbude der Sechzigerjahre erinnert. Eine Gitarre steht zwischen Kartons, auf dem Boden liegen Schlappen, es gibt eine Couch mit sehr viel Patina, einen verschlissenen runden Holztisch und ein altes, hellbraunes Klavier.

Mitin, 28, das hellbraune Haar sorgsam gescheitelt und Pistazien knabbernd, ist gerade aus London zurückgekehrt, wo er ebenfalls ein Café eröffnen will. Aber hier, in diesem Raum, hat vor drei Jahren alles angefangen. Er hat Freunde in diesen Raum gebeten, dann Nachbarn, Bekannte, die wiederum ihre Freunde mitbrachten. Es gab nichts, nur Stühle, Tische, dieses Zimmer, in dem er doch ein wertvolles Gut sah:

Einen neutralen, öffentlichen Raum, in dem sich Menschen treffen.

Mitin wollte mit dem Zifferblatt einen Ort schaffen, der die Angst aussperrt. An dem die Menschen wieder lernen, freundlich und offen aufeinander zuzugehen. Also mietete er ein paar Zimmer, würfelte Möbel und Stile sorglos durcheinander und stellte Bücher von Tolstoi, Böll und Poe in die Regale.

Zuerst kamen seine Künstlerfreunde. Dann immer mehr Fremde, Studenten, die junge Moskauer Mittelschicht, ab und an auch mal ein Herr im Anzug. Werbung war keine nötig, Mundpropaganda reichte aus.

In anderen Anti-Cafés zerrt Elektromusik an den Nerven, gibt es Karten mit Preisliste für alles, was extra kostet, die Besucher starren vor allem auf die Bildschirme ihrer Telefone.

Im Zifferblatt dagegen herrscht eine fast ehrfürchtige Scheu davor, den Laptop aufzuklappen oder sich mit dem Smartphone zu beschäftigen. Niemand scheint gegen den Geist des gemeinschaftlichen Gesprächs verstoßen zu wollen.

In Moskau, wo die Familien von der Oma bis zu Enkel oft beengt in einer kleinen Wohnung zusammen leben, ist das schon was. Mitin stellte einen Koffer an die Wand, die Gäste warfen so viel Geld rein, wie sie wollten. „Es wurden immer mehr, jeden Tag kamen 50 Leute, und schnell wurde der Raum zu einem Café“, sagt er. Ein Jahr später eröffnete er nebenan das erste Zifferblatt.

„Die Menschen zog es schon immer an einen gemeinsamen Ort, an dem sie ihre Zeit verbringen“, sagt er, „und ich sage es ganz offen, ich verkaufe ihnen keine Getränke. Ich verkaufe ihnen Zeit. Die Menschen wollen nicht alle zehn Minuten gefragt werden, ob sie noch was wollen. Sie wollen Zeit miteinander verbringen. Kaffee, Tee, Gebäck gibt es dann dazu.“

Doch aus der Künstlerseele Iwan Mitin ist jetzt ein Geschäftsmann geworden. Ein miserabler noch dazu. Mitin: "Leider funktioniert diese Kunst nicht ohne das Geschäft." Im Sommer mussten Freunde und Zifferblatt-Anhänger einspringen, weil die Einnahmen des Cafés nicht ausreichten, um Moskaus horrende Mieten zu bezahlen.

Gerade hat die schönste Stunde im Zifferblatt begonnen, auf den Straßen gehen die Lampen an, ihr gedämpftes Licht sickert durch die Vorhänge des Cafés, die Räume sind erfüllt vom Summen der Gespräche.

Irgendwie klingt Mitin wie ein verträumter Student, der mitten im Moskauer Ellbogen-Milieu eine Nische für seine Sozialexperimente sucht. Er hat sich vergeblich als Maler, als Literat und Musiker versucht und er sagt selber, er wolle kein Business.

Immerhin legt er Wert auf den Grundsatz der Ökonomie, dass er mehr einnimmt als ausgibt. Das sagt er jedenfalls und er gibt auch zu, dass er für die Eröffnung seiner Cafés auch „Partner“ hatte, die mit angeschoben haben. Aber nun sind es zwei Zifferblätter in Moskau, weitere in St Petersburg, Rostow, Kasan und der Ukraine. Vielleicht funktioniert sein Konzept auch nicht in Berlin oder London, wie er es sich erhofft. Vielleicht vor allem in Russland.

Die Zeit wir es zeigen.

Iwan Mitin geht an diesem Abend früh ins Bett. Er hat in Moskau einen einzigartigen Ort geschaffen. Die Tür klappt hinter ihm zu. Zurück bleiben etwa hundert Gäste, denen die Zeit nicht davonläuft.

Ich setze mich um und lasse mich auf einer Couch immer tiefer sinken. Der Tee in meiner Tasse wird langsam kalt. Den Klavierhocker hat inzwischen ein Könner erobert, er spielt in Endlosschleife Auld Lang Syne.

Ich lausche dem Gelächter von Elena, Sergej und Witali, lache mit und möchte am liebsten nie wieder raus auf die Straße.

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aus:
Bleib ruhig sitzen
Im Moskauer Café Zifferblatt zahlt man nicht für den Kaffee, sondern für den Aufenthalt – zwei Rubel pro Minute. Die meisten Gäste versinken gleich für mehrere Stunden in den Sofas.

von: DIANA LAARZ
zeit.de, 8. April 2013

und:
PANORAMA
Alles fließt
Zwei Rubel für eine Minute: Im Café Zifferblatt in Moskau bezahlen die Gäste für die Zeit, die sie im Lokal bleiben. Man kann für wenige Geld schnell einen Espresso trinken – oder stundenlang über den Lauf der Dinge philosophieren

von FRANK NIENHUYSEN
Süddeutsche Zeitung, 23. April 2013

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