Triumph der Käuze

"Thick As A Brick": Jethro Tull ergänzen einen Klassiker

von MICHAEL GRILL


Es ist nicht zu fassen, Jethro Tull haben doch noch einmal etwas zustande gebracht, worüber sich nachzudenken lohnt. Die Band war seit Ende der sechziger Jahre so etwas wie der sympathische Waldschrat des Rock, wurde aber zuletzt von ihrem Chef Ian Anderson wie eine Jahrmarktattraktion mit Best-of-Programm durch die Hallen der Mittelstädte gescheucht. Das letzte wahrnehmbare Werk („Dot Com“) ist mehr als zwölf Jahre alt, seitdem war nur noch eine klingende Kapitulation namens „Christmas Album“ erschienen.

Trotzdem hatte keiner viel vermisst *?*: Jethro Tulls Musik sollte nie etwas „bedeuten“ im sozialkritischen Sinne ihrer Kollegen aus den Gründerjahren der Rockmusik, Anderson sah sich eher in der Tradition mittelalterlicher Bänkelsänger, wurde nebenbei erfolgreicher Fischzucht-Unternehmer und lobte in den Achtzigern die Politik von Ronald Reagan und Margaret Thatcher.

Um die Band irgendwie über die Jahre zu bringen, genügte es, die in den Kanon der Classic-Rock-Sender eingegangenen frühen Alben wie „Aqualung“ oder „Living In The Past“ in die Schleife der ewigen Wiederholung zu schicken: „Hör mal Schatz, da spielen sie wieder unser Lied von damals, das mit der Querflöte.“

Jethro Tull war aber auch eine schrullige Bühnenversion des britischen Humors der Monthy-Python-Zeit und musikalisch mit das Beste, was der sogenannte Progressive Rock in seinen Mainstream-Spielarten hervorgebrachte: Sehr fein, sehr komplex, und im Kontrast zur Zausel-Optik sehr – sofern man das Wort noch verwenden darf – elegant.

Dafür steht wie kein anderes das vor vierzig Jahren erschienene Album „Thick As A Brick“, frei übersetzt, „Saudumm“. Es ist die Überzeichnung dessen, was die maßlos werdende Rockmusik jener Tage ein „Konzeptalbum“ nannte und basiert auf folgender Legende: Ein zehnjähriger Bub namens Gerald Bostock sei mit seinen frühpubertären Texten bei einem Dichterwettstreit disqualifiziert worden und habe das angeblich anstößige Material an die Band geschickt, die daraus das Album strickte. Es wurde das erste, mit dem Jethro Tull Platz 1 der Billboard-Charts erreichten, und es gilt bis heute als maßgeblicher Bestandteil der Rockgeschichte. Das kleine, dickliche Pop-Gespenst Gerald Bostock wurde von Ian Anderson später noch als Alter Ego benutzt und lebte so ein wenig weiter.

In diese eigentlich abgeschlossene Situation hinein platzt die Nachricht, dass Jethro Tull einen zweiten Teil der Geschichte aufgenommen haben: „TAAB2“ (EMI), der sich um die Frage dreht, was denn aus dem unglücklich begabten Kind hätte werden können. Außerdem hat Gerald Bostock nun ganz real eine Facebook-Seite und einen Twitter-Account. Anderson begründet das Ganze mit einem neu erwachten Interesse der Jugend an seiner Musik: „Zu den Konzerten kommen nicht mehr nur alte Käuze, sondern eher eine Mischung aus alten Käuzen und jungen Käuzen.(sic!)

|Das ist der Band noch nie gelungen:|
|Sie wirft Fragen auf|

So steht man also im Jahr 2012 tatsächlich vor einer neuen Jethro-Tull-Platte. „TAAB2“ ist ein durchgängig zwiespältiges Erlebnis:

Einerseits – dieser Hippiekram! Durchkomponierte Rock-Arien mit Kirmes-Orgel, Streichern, Metal-Gitarrenläufen. Wie schon „damals“ geben sich Jethro Tull alle Mühe, jeden Anflug von Coolness zu vermeiden. Es ist nicht einmal Retro-Schick, sondern viel souveräner, und das ist ja – andererseits – das Erstaunliche:

Wie ungerührt hier jemand an seiner Ästhetik von Vorgestern festhält und dabei trotzdem noch gut aussieht. Das Album beantwortet die „Whatever happened to….?“-Frage so perfekt, dass es letztlich keine Fortsetzung einer Geschichte von 1972 geworden ist, sondern deren direkte Verlängerung. Schon die kleine Ouvertüre nimmt das Motiv auf, mit dem vor 40 Jahren die Vinyl-Plattenseite A und B musikalisch zusammengehalten wurden: Eine Rekonstruktion, wenn nicht gar eine Retro-Rekonstruktion.

So gelingt Jethro Tull etwas, was ihnen zuvor noch nie gelang: Sie werfen Fragen auf. Was macht man mit der Rockmusik, wenn der Trend in alle Richtungen geht, also gar nicht mehr erkennbar ist? Ist es mittlerweile völlig egal, ob es noch so etwas wie Fortschritt in der Rockmusik gibt? Wo ist das Koordinatensystem? Als an diesen Fronten noch Kämpfe ausgefochten wurden, gab es das böse Wort vom Gesamtrocktrottel. Er war der Waldschrat im Publikum. Es gibt ihn immer noch, denn er ist vielleicht saudumm, aber nicht blöd. Er wird an „TAAB2“ Freude haben.


Jethro Tull runden Klassiker "Thik As A Brick" ab
Souveräne Ästhetik von vorgestern
Süddeutschen Zeitung, 29. März 2012

Von Michael Grill
Süddeutschen Zeitung, 29. März 2012

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*?*

"Wer an der Ästhetik von Vorgestern festhält, müsste eigentlich 'Scheiße' aussehen" ....
Doch noch eine angemessene Ankündigung eines Rock-Albums


Stimmt, ich habe Jethro Tull und Ian Anderson nie vermisst. Beide waren, mal mehr, mal weniger, immer für mich da. Mit ihren bekanntesten (besten?) Stücken nun fast ein Leben lang.

Das kann dann eigentlich nur für den als Makel erscheinen, der seine weidlich überschätzte Qualifikation als Rock-Kritiker ableitet aus seiner (relativen) Jugendlichkeit und zu allem Überfluss aus der Loyalität seiner eigenen Generation gegenüber und deren Meinungs-Klischee-Mainstream.

À propos, „worüber es sich lohnt, nachzudenken“: Weinerliche Wachturm-Lyriker der Sorte Söhne M aus dem Westen oder hanebüchene „Arbeiter“-Lyriker vom Schlage Rammelstein aus dem Osten, sind beliebige Beispiele für Vieles verhökernde Musikschaffende von heute in unserem Sprachraum. Keine Angst, mit ihnen kommt ganz gewiss nicht „der Fortschritt der (Rock-)(Pop-)Musik“. Ihr oft peinliches, selten sozialkritisches, oft lauthals und großmäulig tabubrechendes „Nachdenken“, das sich vor allem für sie selber „lohnt“, ist geschenkt.

Musik begleitet existenzielle Emotionen, macht sie hörbar und versetzt dabei nicht nur das zuständige Sinnesorgan in Mit-Schwingungen. Ian Anderson mit Jethro Tull und viele Hippie-Rocker (was auch immer das sein soll) haben das für mein Leben in begeisternder Weise getan. Für emotionale Entlastung eines Kindes in der Konfrontation mit Eltern, die eine nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland, die einen verheerenden Weltkrieg und die systematische Ermordung von Juden mit zu verantworten hatten, in der Abwehr einer kirchlich verordneten, verquasten Sexualmoral und nicht zuletzt angesichts eines unverhohlen imperialistischen Kriegs der USA in Vietnam, ist ihnen das bewundernswert gelungen.

Mit welcher „Kuulness“ (Dreistigkeit?) das geschah, welcher Ästhetik, Waldschrat- oder Zausel-Eleganz, war doch ziemlich wurscht. Die Stil-Frage kann ja eigentlich nur von irgendeiner Bedeutung sein, wenn man sich nicht mehr vorstellen kann, dass Musik auch und gerade ohne ein mehr, selten weniger dämliches Video möglich ist.

Die Frage, was einer, der mit Jethro Tull alt geworden ist, im Jahr 2012 noch mit ihrer Musik anfangen kann, ist ebenso wie die Frage nach dem „Fortschritt von Musik“ nichts als schlicht „thick as a brick“, saudumm. Daher ja wohl auch: TAAB2(?). Das einzig "Fortschreitende" in der Musik ist die Technik, mit der sie gemacht, konserviert und verbreitet wird und mit Einschränkungen (La-la Liebelei…. ausgenommen) die Texte aus der jeweiligen Zeit.

„Die“ Musik, egal aus welcher Schublade, ist weitgehend „fertig“. Die Menge an Tondokumenten, die die Menschheit bis heute hat, liefert mehr als genügend Material für „neue“ Verknüpfungen, Instrumentierungen, Interpretationen…. Das sollte für die nächsten Jahrtausende ausreichen, immer wieder neue Generationen Pubertierender und vermeintlicher Zeitzeugen "nie dagewesener", „moderner“ Musik abzukassieren und deren „Macher“ (und ihre Kritiker) – wie gehabt - mehr, meist weniger reich zu machen, bestenfalls rechtschaffen zu ernähren.

Lieber Michael Grill, als „Achtundsechziger“ (geboren am 28. April 1968) sind Sie nicht nur ein „Dienstleister“ Ihrer "peer group" der Post-Rock-Disco-TechNO-Zirkum-Vierziger. Als 67jähriger Klassik-, Art- und Progressive-Rock-Liebhaber und in weiten Teilen sehr zufriedener SZ-Leser, bin auch ich nun - nolens volens - einer Ihrer Kunden.

Ihre obige Arbeit für diese Zeitung hätte ohne verbales "Nachtreten" und „strategische Fouls“, (im „Geiste“ Ihrer Generation?!:…nichts worüber es sich lohnt, nachzudenken …klingende Kapitulation …keiner hat viel vermisst …schrullige Version …maßlose Musik jener Tage …Hippiekram …Ästhetik von Vorgestern …), eine angemessene Ankündigung eines neuen Rock-Albums sein können, - die es dann letztlich ja doch ist – wenn auch in einer überflüssigen Verkleidung.

Ihr Hippie- und Gesamt-Rock-Trottel,
Karlheinz

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