Zwischen Start und Ziel Die große Poesie des Nicht-Ankommens Die drei CD-Box „The Lost Tapes“ Exzerpt aus dem Artikel von JOACHIM HENTSCHEL Von den elf Platten, die Can zwischen 1969 und 1979 veröffentlichten (1989 erschien, als kurzes Comeback, eine zwölfte), klingen die meisten noch heute entweder markerschütternd oder herzrhythmisch hypnotisierend, haben sich nicht erschöpft, wurden nie nennenswert entschlüsselt oder zu Ende gehört. Theoretiker finden hier die optimale Emulsion aus Jazz, europäischer Neu-Klassik, archaischen Fruchtbarkeitstänzen und schmerzhaft entkerntem Rock’n’Roll. Sogar Krimifans haben etwas von Can: „Spoon“, 1971 die Titelmusik des ARD-Dreiteilers „Das Messer“, ein echter Drei-Minuten-Hit, den kein Mensch singen kann. 20 Jahre nach den letzten gemeinsamen Aufnahmen, erscheint die Box „The Lost Tapes“, drei CDs mit über drei Stunden unveröffentlichter Musik aus den besten Can-Jahren. Bei genauerer Betrachtung eine absolute Sensation. Vier Jahre lang sollen sich Keyboarder Irmin Schmidt, heue 75, und der Produzent und Musik Hochschul Lehrer Jono Podmore durch die Rumpelkammer des früheren Can-Studios gearbeitet haben, 50 Stunden unbeschriftete Tonbänder abgehört, datiert und bewertet. Eine Chance, die es nur deshalb gab, weil die Band trotz ihres öffentlich-rechtlichen Marktwertes in den Siebzigerjahren radikal autonom arbeitete. Unveröffentlichte Filmmusiken, Ausschnitte aus Privatkonzerten, Vorstudien zu bekannten Songs, unbekannte Studiostücke, auch ganz konventionelle Live-Aufnahmen wurden ausgewählt. So aus dem Festsaal im Schloss Nörvenich bei Düren, wo der Kunstsammler Christoph Vohwinkel Ende der Sechzigerjahre seine Vernissagen feierte und die unbekannten Can dazu spielten, blueslose, herrlich enervierende Psycho-Orgelbeat-Endlosschleifen, zu denen der damalige Sänger Malcolm Mooney Konversationsfetzen skandierte, die er den Ausstellungbesuchern abgelauscht hatte. Oder vom Set des absurden ARD-Films „Das Millionenspiel“, in dem Dieter Thomas Heck schon 1970 den Moderator einer Reality-Show spielte, deren Kandidaten von Auftragskillern gehetzt werden, und Can den Titelsong komponierten. Eine irre Fusion aus Edgar Wallace und Karlheinz Stockhausen, hier erstmals ungekürzt zu hören. In der Toilette des ehemaligen Kinogebäudes in Köln-Weilerswist, aus der Zeit der alten Tonfilm-Herrlichkeit, wo die Band 1971 dauerhaft ihr Experimentalstudio einrichtete, das kleine Stück mit der Klospülung, ein Sponti-Witz, der ebenso zum Can-Kosmos gehört wie die vielen Gedudel-Minuten, die einem bei einem guten Glas Milch und einer Scheibe Schwarzbrot auch ganz schön lang werden können. Musik, die wie die von Pink Floyd mit Monotonie und Selbstbeschränkung die Hierarchien des Entertainment-Pop unterläuft, die dabei den schrillen Eruptionen des Free Jazz ebenso misstraut wie dem Hodengriff des Rock’n’Roll. Musik, die oft mit New-Age-Eskapismus oder Kiffer Lethargie verwechselt wird. Can hatten mit den Hippies gar nichts zu schaffen, aber auch die Verklärung des technischen Apparates, die oft sonderbar nostalgisch wirkende Computer- und Autobahnromantik der Robotertypen von Kraftwerk aus Düsseldorf wäre ihnen zuwider gewesen. In „Mother Sky“, in der Musik von Can allgemein dürfte für eher programmatische Gedanken, ein bisschen Reflexion übers Größere, über Freiheit und das Wesen der Macht, echte Fragen des Tages also, wesentlich mehr Platz gewesen sein, als im „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ von Ton Steine Scherben. Höhepunkt der „Lost Tapes“-Box ist dann auch das Stück „Graublau“, eine viertelstündige, schwindlig machende Montage aus dem Soundtrack zu „Ein großer blauer Vogel“ von 1969, dem Debütfilm von Thomas Schamoni. Einem der bis heute rätselhaftesten, brillant-bescheuertsten Werke des deutschen Jungautoren-Kinos, in dem das Oberhausener Manifest noch wie die Erlöserglocke bimmelte. Dessen rasante Autoszenen durchs Gebirge mit dem John-Lennon-artigen Klaus Lemke auf der Rückbank des roten Alfa Romeo das Dröhnen und Scharren der CanMusik, das durchtrieben, auch leicht boshaft Repetitive und Beschwörende dringend brauchten, um den paar Zuschauern überhaupt klar zu machen, dass es in diesem Kunstwerk um mehr gehen sollte als um Start und Ziel einer Reise. Sondern um das dazwischen, die große Poesie des Nicht-Ankommens. Wer den ganzen Artikel lesen möchte, gehe zu: Kokett widerborstig Von JOACHIM HENTSCHEL |
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