Es herrscht Duz-Zwang

Die Legende von „Ton Steine Scherben“: Das Rio-Reiser-Haus im nordfriesischen Fresenhagen ist bis heute Pilgerstätte für Alternative 

Peter Möbius schüttelt es, als er das Wort ausspricht: „Heldenverehrung“. Weniger aus Ekel, denn aus Überdruss reagiert er so körperlich. Er steht vor dem kleinen Museum in Fresenhagen, in dem das Andenken an seinen Bruder bewahrt wird, und rechtfertigt dessen Existenz, ohne dass man ihn danach gefragt hat. Zu präsent sind immer noch die Vorwürfe des Verrats, die mit diesem Ort verbunden sind. Es gebe den Hölderlinturm, sagt der debattenmüde Mann im Joseph-Beuys-Outfit, das Goethe- und das Schillerhaus, es gebe überall Orte, wo die Menschen den Künstlern nahe sein wollen, die sie verehren. Warum darf es dann kein Rio-Reiser-Haus geben? 


Rio Reiser starb vor elf Jahren. Das Wohnhaus seiner Gruppe "Ton Steine Scherben" ist heute ein Museum.
Foto: Ludwig Rauch

Doch so einfach ist das nicht, und das weiß auch Peter Möbius. Denn die Geschichte von Ralph Christian Möbius alias Rio Reiser und seiner Band Ton Steine Scherben, meist kurz „die Scherben“ genannt, ist eine Geschichte des Rechtfertigungsdrucks. Von der Gründung der Band in den Kreuzberger Kampftagen 1970 bis zur Gegenwart verfolgte sie der Konflikt von Anspruch und Wirklichkeit wie keine andere Gruppe. Allein der Titel ihrer berühmtesten Platte „Keine Macht für Niemand“, der noch heute auf Merchandising-Produkte gedruckt wird, formuliert eine Vorstellung vom menschlichen Leben, die so kein Mensch mit seiner persönlichen Geschichte in Einklang bringen kann. 

Schon gar nicht die Scherben, glaubt man ihren zahlreichen Selbstzeugnissen aus den vergangenen 37 Jahren. Euphorisch empfundene Revolutionspoesie von Gemeinschaft, Gleichheit, Rebellion und Freiheit bedeutete im Alltag der Scherben-Kommune in Fresenhagen kleinkarierte Kämpfe um Abwasch und Einkauf, Privatsphäre und Gruppenzwang. Das gemeinsame Leben in dem Gutshof, wohin die Scherben 1975 vor dem Berliner Überdruck aus politischer Vereinnahmung und polizeilicher Repression geflohen waren, stand zwar unter dem Banner des freien Kommunardendaseins, war tatsächlich aber eine Demokratie der Duckmäuser, in der Rio Reiser entschied. „Vor-feudalistische Arbeitsverhältnisse in einem sektenähnlichen Hierarchiegefüge“ nannte Rios langjähriger Freund Misha Schöneberg das Leben in Fresenhagen rückblickend. 

Putziges Mini-Museum 

Dementsprechend hatte Rio Reisers Wandel vom singenden Luther der Linksradikalen, der das revolutionäre Latein in ein verständliches und sinnliches Deutsch übertragen konnte, zum Solokönig „Rio I.“ 1986 durchaus seine innere Logik. Allerdings vertrug sein Wechsel zur Industrie und sein kommerzieller Erfolg mit Hits wie „König von Deutschland“ und „Junimond“ nicht mit den pathetischen Vorstellungen vom alternativen Leben bei seinen einstigen Fans und Mitstreitern. Reiser wird bis heute für seine anarchistischen Parolen persönlich haftbar gemacht, und deswegen ist das putzige Mini-Museum mit Totenmaske und Devotionalien ebenso Anlass für Verratsvorwürfe wie die Umbenennung der Ton Steine Scherben-Kommune in „Rio-Reiser-Haus“.

 
Foto: Till Briegleb

Der Rechtfertigungsdruck für diesen Teil der Geschichte mag zwar mit dem Aussterben der klassischen Linken nachgelassen haben, aber Konflikt ist Reisers Biographie auch post mortem eingeschrieben. Selbst das kleine Festival anlässlich seines Todestage, das alljährlich zum 20. August in Fresenhagen stattfindet, zeugt weiter vom krisenhaften Kreislauf. Auf dem nordfriesischen Bauernhof zwischen Maisfeldern und Kuhweiden, auf dem Reiser 1996 starb und begraben wurde, mischt sich für das Mikro-Woodstock zwar ein überraschender Querschnitt deutscher Lebensmoden. Selbstdreher mit schwarz-rotem Stern am grauen Filzhut tummeln sich auf dem zugewachsenen Gelände neben Frisbee spielenden Camper-Familien, aufgebrezelte Dorfjugend sucht in der Musikscheune mit Namen „Winnetous Garage“ ebenso Spaß bei Fehlfarben und Dorfdisko wie faltige Althippies mit Bier links und Joint rechts. Aber obwohl sowohl Peter als auch Gert Möbius, der andere Bruder von Rio, das Festival ein Familienfest nennen, fehlt doch ein wesentlicher Bestandteil, der diesen Namen rechtfertigen würde. Von der ganzen Scherben-Family, also den alten Bandmitgliedern, ist keiner da. 

Keiner außer R.P.S. Lanrue. Der Keith Richards der „deutschen Stones“ und engste Freund Reisers hatte sich nach dessen Tod nach Portugal zurückgezogen, lebte dort in totaler Abstinenz vom Musikbusiness, bis sein Haus bei einem Waldbrand zerstört wurde und er in einen Wohnwagen umziehen musste. Retten konnte er nur seine Gitarren, einen Verstärker und einen Koffer mit Zeugs, die meisten Erinnerungsstücke aber gingen in den Flammen auf. „Da waren so tolle Sachen dabei wie eine Karte von Paul Breitner zu meinem Geburtstag“, erinnert er sich heute, wo er wieder in Fresenhagen lebt. Er hat sich den alten Studiotrakt hinterm Haus, wo die Scherben ihre Platten aufgenommen hatten, zum Wohnstudio ausgebaut. Im vorderen Bereich sieht es bis auf den neu verlegten Marmorboden original aus wie in einer Wohngemeinschaft der Siebziger. Im Studioteil herrscht kreative Unordnung rund um einen schweren Drei-Band-Billardtisch, ein Spiel, das der Mann mit Strohhut und sehr weit offenem Hemd schlafwandlerisch beherrscht. 

Obwohl Lanrue nach dem Tod Rios mit dessen Brüdern in Erbstreitigkeiten geriet, war hier eine Versöhnung möglich. Aber mit den anderen Scherben liegt auch er im Streit, obwohl er sich dazu nicht äußern will. „Nicht ohne einen Rechtsanwalt“, sagt er mit einem Lachen, das gleichzeitig ängstlich und traurig wirkt. Gert Möbius, der neben dem Haus in Fresenhagen auch das Rio-Reiser-Archiv in Berlin sowie das bandeigene Label „David-Volksmund-Produktion“ betreut, sagt, er wisse überhaupt nicht genau, worum es bei dem Fresenhagen-Boykott der Scherben eigentlich geht. Peter Möbius vermutet, die Ex-Bandmitglieder fühlten sich durch die Erben ausgebootet. 

Rios Grab vorm Arbeitszimmer 

Vermutlich ließe sich die Konfliktlage ausrecherchieren, aber im Grunde ist das egal, denn diese Art der Zerwürfnisse sind das Mantra Fresenhagens. Fakt ist, dass Marius del Mestre, ein Ex-Scherben-Gitarrist, den Rio nach kurzem Gastspiel wieder gefeuert hat, vor wenigen Jahren kurzfristig die Geschäfte des Rio-Reiser-Hauses führte, was laut Gert Möbius böse in die Hose ging. Del Mestre spielt nun aber „den Rio“ bei der Rentnerband Ton Steine Scherben Family, in der zahlreiche ergraute Originalmitglieder einen würdevollen Tod des Scherben-Repertoires verhindern. Ohne das Charisma Reisers und die musikalische Seele Lanrues, der wohlweislich nicht mitmachten wollte, zerfallen bei diesen peinlichen Auftritten gerade die alten Polit-Hits der Scherben zu Revolutions-Nippes. Am Geltungsanspruch, die wahren Scherben-Erben zu sein, ändert das aber vermutlich nichts – und damit ist der Konflikt mit den rechtlichen Erben programmiert. 

Doch was ist Fresenhagen heute? Ist der abgelegene Hof bei Niebüll ein magischer Ort, in dessen Mauern deutsche Protestgeschichte fortlebt? Ist das Anwesen Kult und damit in den Fängen der Freak-Nostalgie? Oder ist dem Rio-Reiser-Haus ein neuer Epochenstart gelungen, der die Geschichte kritisch bewahrt? 

Noch heute kommen täglich Menschen nach Fresenhagen, erzählt Gert Möbius, der erstaunlich offenherzig über seinen Bruder, die Band und das Haus spricht. Die Fans allen Alters sitzen auf der Bank vor dem Grab, besuchen das Museum, wollen das Arbeitszimmer sehen, das nach Rios Tod unverändert blieb. Zehntausend Kopien verkauft „David Volksmund Produktion“ jährlich von jeder Scherben-Platte, zuletzt von der „Gesamtwerk“-Box mit 13 neu gemasterten CDs. Die Scherben besitzen also auch 2007 noch eine Aura, die Menschen berührt. Ein Punk namens Ralf, der seinen Namen als RAF-Emblem auf der Brust trägt, erzählt sogar, dass ihn Rio Reisers Musik aus der Psychiatrie geholt hätte. Und auch Gert Möbius weiß von vielen Labilen, denen Reisers Stimme zurück ins Leben geholfen haben soll. 

Strukturelle Unordnung 

Doch mit dem Mythos alleine wäre Fresenhagen ruiniert. Der Erhalt des riesigen Komplexes verschlingt Unsummen. Heizkosten im Winter gehen in die Tausende, das Reetdach müsste dringend erneuert werden. Außerdem war mit der behördlichen Erlaubnis, Rio Reiser direkt vor seinem Arbeitszimmer beerdigen zu dürfen, die Auflage verbunden, aus Fresenhagen ein Kulturzentrum zu machen. Und damit müht sich Gert Möbius nun seit elf Jahren ab. Ein Studio wurde eingebaut, in dem Bands wie Die Sterne Platten aufgenommen haben. Gästezimmer zu 25 Euro die Nacht sind zu mieten. In „Winnetous Garage“ feiern Hamburger Werbeagenturen Betriebsfeste. Und das sporadisch geöffnete Café kann auch als Konferenzraum benutzt werden. Zwei Geschäftsführer sollen dafür sorgen, dass das Rio-Reiser-Haus sich trägt. Aber auf die Frage, ob es das auch tut, rollt Gert Möbius nur mit den Augen. 

Atmosphärisch ist in der „Freien Republik Fresenhagen“ allerdings noch viel bewahrt aus den wilden Zeiten, da man die Welt noch in ein „Wir“ und ein „Ihr“ aufteilen konnte. Es herrscht Duz-Zwang, man sitzt um den Küchentisch, raucht und kocht gemeinsam, der solidarische Gedanke zeigt sich in allgemeiner Hilfsbereitschaft, das verbindende Anderssein in der totalen Verweigerung von zeitgenössischem Geschmack. Helles Holz und dunkle Hüte akzentuieren eine strukturelle Unordnung, übersät mit Aschenbechern, Kaffeepötten und Andenken. 

Das besitzt durchaus die Würde gelebter Geschichte. Bei allem rituellen Habitus und alternativem Jargon, der diesem Ort innewohnt, geht es in Fresenhagen doch um die Bewahrung menschlicher Werte. Die Überzeugung, dass neben dem kommerziellen Pluralismus ein Lebensraum bestehen kann, in dem Gemeinschaft wichtiger als Status ist, hat nicht mehr viel Heimat in Deutschland. Allein deswegen braucht es für den Fortbestand einer solchen Enklave keine besondere Rechtfertigung mehr. Fresenhagen ist für die deutsche Geschichte seit 1968 so wichtig wie das Goethehaus für den Weimar-Kult. Und ohne ein bisschen Heldenverehrung wäre das Gut in absehbarer Zeit nur noch ein Fall für eine Archäologie der Linken. 

TILL BRIEGLEB

Süddeutsche Zeitung,
Dienstag, 21. August 2007