Willy Sommerfeld

ist am 19. Dezember 2007 im Alter von 103 Jahren gestorben. Das teilten die Freunde der Deutschen Kinemathek in Berlin mit. Er galt als der dienstälteste Stummfilm-Pianist weltweit und war Zeitzeuge der Anfänge des Kinos.

©  ZEIT online, 2006

Das Melodiefossil

Willy Sommerfeld, der letzte große Stummfilmpianist, kommt mit 102 Jahren ins Fernsehen. Unsere Autorin Rabea Weihser hat ihn und seine Frau in Berlin getroffen

„Willichen, jetzt stell dich richtig hin und geh!“, sagt Doris Sommerfeld energisch. Willichen ist ihr Mann und 102 Jahre alt. Leicht gebeugt schlurft er zum Klavier, setzt sich, legt seine faltigen Hände auf die Tasten.

Auch über Hundert täglich am Klavier

„Kannst du dich noch an Metropolis erinnern, Papa?“ fragt seine Frau. „Ja, Metropolis , da hatte ich immer ein Hauptmotiv“, murmelt Willy Sommerfeld. Er pfeift ein paar Töne ohne Zusammenhang, singt „Damm, Bamm, Bamm!“ und donnert die ersten Takte des cis-moll-Preludiums von Sergej Rachmaninow in den Flügel.

Willy Sommerfeld ist der letzte große Stummfilmpianist. Mit seiner Frau Doris wohnt er in der Uhlandstraße in Berlin-Charlottenburg. In den Zwanzigern begleitete er Leinwandklassiker wie Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein, Fritz Langs Metropolis oder Berlin: Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann. Er erlebte zwei Weltkriege, die Teilung Deutschlands, die Wiedervereinigung, die Jahrtausendwende. Bis heute spielt er jeden Tag Klavier, ganz ohne Noten, denn die größten Musiken des 19. und 20. Jahrhunderts kennt er auswendig.

In diesem Jahr war Willy Sommerfeld besonders gefragt: Im Sommer kam eine Dokumentation über sein Leben in die Kinos, The Sounds of Silents – Der Stummfilmpianist , und er erhielt das Bundesverdienstkreuz am Bande. Der Trubel um seine Person schert ihn wenig. In Interviews unterstützt ihn seine Frau, nachdem sein Gehör in den vergangenen Monaten stark nachgelassen hat. Doris Sommerfeld ist 75 und hält ihn seit einem halben Jahrhundert auf Trab. Sie kennt ihn genau und erzählt vergnügt: „Die ganzen Abenteuer seines Lebens weiß ich, was soll er sich denn noch alles merken!“ Sein Kopf ist voller Melodien.

Eigentlich sollte Willy Sommerfeld Musiklehrer werden. Mit 16 machte er in seiner Geburtsstadt Danzig das Examen zum Geigenlehrer. „Aber das hat mir nie gelegen", sagt Sommerfeld. Er wollte als Kapellmeister ein Orchester leiten und Musik komponieren. Das Talent dazu hatte er. Seine Geigenlehrerin konnte ihm binnen dreier Stunden die Grundlagen des Klavierspiels beibringen. Nach dem Examen zog er nach Berlin, um am Sternschen Konservatorium zu studieren. 

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren hart für Künstler in der Großstadt. Da kamen die ersten Stummfilmkinos auf. In den Bayreuther Lichtspielen am Wittenbergplatz verdiente er sich ein Zubrot. „Ich spielte Violine zum Film, und mein Professor vom Konservatorium saß am Klavier. Der war ein Schüler von Arthur Rubinstein und brachte mich abends immer nach Hause. Sicherheitshalber, wegen der Damen,“ erzählt Willy Sommerfeld und grinst. Als Siebzehnjähriger studierte er vormittags, danach ging er ins Kino, suchte die passenden Noten für den abendlichen Auftritt heraus und übte heimlich Klavierspielen. Bald schon ersetzte er den Professor und begleitete die Filme allein. Mit drei Unterrichtsstunden hatte er es zum Stummfilmpianisten gebracht. Manch technische Schwäche konnte er geschickt kaschieren, die Improvisation wurde seine Stärke.

Es gab zwar seit 1910 die so genannten Kinotheken, in denen Musikstücke nach ihrem Grundcharakter sortiert waren. Die Stummfilmbegleiter mussten also nur in die Schublade „gruselig“ oder „lieblich“ greifen, um mit den hinterlegten Werken die verschiedenen Filmszenen zu untermalen. Doch Willy Sommerfeld wollte seine knappe Freizeit nicht in Archiven verbringen. Im Kapellmeisterstudium hatte er viele Partituren verinnerlicht, das half ihm nun: Während die schwarz-weißen Bilder über die Leinwand flimmerten, fügte er aus dem Stegreif Opernmelodien, das klassische Konzertrepertoire und die neuesten Schlager zu einer Klangtapete zusammen. Oft hatte er den Film noch nie vorher gesehen und spielte, wie es ihm gerade in die Finger schoss.

Auch während der Dreharbeiten in den Babelsberger Filmstudios war er dabei. „Da haben die jungen Musikstudenten in der Dekoration gesessen und die Szenen am Klavier begleitet. Als Stimulanz für die Schauspieler, damit die Atmosphäre nicht so trocken war“, erzählt Doris Sommerfeld.

Bis 1926 arbeitete Willy Sommerfeld als Stummfilmpianist oder auch Tappeur. Nach Abschluss des Studiums nahm er eine Stelle als Lektor bei einem Verlag in Braunschweig an, dirigierte dort erst ein zwölfköpfiges Kinoorchester und wurde dann Kapellmeister am Braunschweiger Theater. In seinem Traumberuf konnte er jedoch nicht lange arbeiten: Die Nazis kamen an die Macht und verboten ihm weitere Auftritte, weil er einem Vorgesetzten den Hitlergruß verweigert hatte.

Eine schwere Zeit brach an. „Alle Theater haben sich gehütet, ihn einzustellen. Dann hat er sich beim Rundfunk mit Hörspielmusiken durchgefummelt. Es vergingen zwölf Jahre, bis er nach dem Krieg wieder anfing mit dem Dirigieren, aber da war er raus aus dem Geschäft“, erzählt seine Frau.

Willy Sommerfeld wirft ein: „Es ist überhaupt ein Wunder, dass ich durch den Krieg gekommen bin, ohne mitzumachen! Das war ziemlich heikel.“ Und Doris Sommerfeld schildert, wie ihr Mann durch den Hinterausgang des Café Kranzler entwischte, als die Feldgendarmerie kam, um die Wehrpässe der männlichen Gäste zu kontrollieren. Und wie er ausgebombt wurde und in eine Pension zog, aus der er eines Nachts über die Küchentreppe vor seinen Verfolgern fliehen musste. „Sein Leben war manchmal ein Albtraum, einfach aus der Zeit heraus,“ sagt sie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg mogelte er sich durchs Leben. „Da hat er dann mal wieder irgendwo ein Dirigat eingeheimst, am Theater des Westens Operetten gemacht und auch eine ganze Menge komponiert, was jetzt hier beim RBB liegt“, sagt seine Frau.

Doris und Willy Sommerfeld lernten sich 1958 kennen und heirateten kurz darauf. Damals war sie Inspizientin am Maxim-Gorki-Theater, er nahm erste Schallplatten auf. Doch nach dem Bau der Mauer 1961 zogen sich die großen Plattenfirmen aus der geteilten, isolierten Stadt zurück. „Da stand er da, musste wieder kämpfen. Seine Wünsche hat er ganz zurückgeschoben und eben das gemacht, was die Stunde forderte, hat mit Studenten und Senioren gearbeitet“, erinnert sich Doris Sommerfeld. 1966 kam ihr Sohn Sebastian auf die Welt. Zwei Jahre später ging Willy Sommerfeld in Rente.

Die Bayreuther Lichtspiele, in denen er als studentischer Stummfilmpianist 1921 seine Karriere begonnen hatte, trugen mittlerweile den Namen Arsenal. Anfang der Siebziger trafen sich hier die Freunde der deutschen Kinemathek und begeisterten sich für die alten Werke von Lang, Murnau und Eisenstein, die Anfang der dreißiger Jahre vom Tonfilm verdrängt worden waren. „Da ging mein Mann als verhältnismäßig junger Rentner hin und sagte ‚Sie bringen doch hier Stummfilme. Wollen Sie die ohne Musik bringen? Dann ist der Stummfilm tot.’“, erzählt Doris Sommerfeld, ihr Mann nickt.

Und so begann die zweite Karriere des Willy Sommerfeld, als Fossil aus einer längst vergangenen Ära. Zweimal im Monat spielte er nun wieder in dem alten Kino. „Mich hat er immer vorgeschickt: ‚Guck doch mal auf das Plakat und sag mir, ob es ein ernster oder heiterer Film ist.’ Der würde sich nie einen Film zweimal nacheinander ansehen“, sagt sie und lacht. In ganz Deutschland wurde er zu Filmvorführungen eingeladen. Willy Sommerfeld nutzte seine Musik, um nachfolgenden Generationen die Bildsprache seiner Jugend näher zu bringen, ein Gefühl für die vergangene Zeit zu vermitteln. Für seine Bemühungen um die Stummfilmkultur erhielt er etliche Ehrenauszeichnungen und Preise.

„Wenn zum Schluss in Metropolis die Arbeitermassen auf ihren Chef losgehen und man denkt, jetzt gibt es einen Zusammenstoß zwischen Kapital und Proletariat, hat er die Internationale gespielt“, berichtet Doris Sommerfeld von den Freiluftaufführungen der achtziger Jahre. Und sie singt: „ Völker hört die Signale! So kann man ein Publikum seinen Vorstellungen entsprechend stimulieren, sodass es das Ganze ernst nimmt und die Gedanken des Autors versteht. Beim Stummfilm gibt es eben nur Schwarz und Weiß, Licht und Schatten, und den Rest macht die Musik.“

In den letzten Jahren hat sich Willy Sommerfeld aus dem Kino zurückgezogen, das Auftreten ist ihm zu anstrengend geworden. Lieber vertont er zu Hause Gedichte von Ringelnatz oder schreibt mit seiner Frau Kinderlieder. Der 102-Jährige ist bei recht guter Gesundheit und beschäftigt sich noch nicht mit dem Tod: „Das sind alles so komische Fragen. Ich bin noch im Diesseits. Das Leben ist irgendwann vorüber und dann...“

Bis dahin improvisiert er noch ein wenig, nimmt es, wie es kommt. „Ich hatte immer die Einstellung, ich werde geführt von da oben, vom Schicksal. Ich habe die Dinge ganz spontan gemacht, und nachher hat sich rausgestellt, dass es richtig war.“

Der Film „The Sounds of Silents – Der Stummfilmpianist“ von Ilona Ziok läuft am 5. Dezember 2006 um 23.45 Uhr im NDR, am 10. Dezember 2006 um 18.00 Uhr im FilmForum NRW im Kölner Museum Ludwig und am 11. Januar 2007 um 23.45 Uhr im SWR.

Weitere Informationen über Willy Sommerfeld gibt es hier

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