Walter Kempowski

Das Einzige, was mich am Tod wirklich traurig macht, ist, dass man als Toter keine Musik mehr hören kann.


- zum Poetenfest Erlangen.

- Nachruf von Gerhard Henschel

- Letztes Interview mit NAHUEL LOPEZ, FA Sonntagszeitung, 7. Oktober 2007


taz 06.10.2007

Das Echolot der Deutschen

von GERHARD HENSCHEL

In "Tadellöser & Wolff", dem Roman, der Walter Kempowski 1971 berühmt gemacht hat, erinnert sich der Erzähler an seinen Spielzeugfuhrpark: "Ich war Spediteur. Drei Märklin-Fernlaster mit weißer Rautenleiste an der Ladefläche und aufsetzbarer Leinenplane. Sie rückwärts in den Hof zu lotsen und auf den Millimeter genau nebeneinanderstellen. Reifenspuren hinterlassen ..." Der junge Walter hätte, wie der alte Walter schrieb, gern "fünf von den Dingern haben mögen oder zehn. Den Kopf auf die Tischplatte legen, dran entlangkucken, Kühler an Kühler." Mit dieser liebevollen Millimetergenauigkeit hat Kempowski Abertausende solcher Nahaufnahmen aus dem Menschenleben zusammengetragen, sortiert und in Kapiteln collagiert, bis aus den Kapiteln Romane erwuchsen und aus den Romanen ein Zyklus entstand, die "Deutsche Chronik" einer bürgerlichen Familie, von der Kaiserzeit - "Seid verwöhnt! Raucht Welp-Zigarren!" - bis zur Ära Adenauer: "Wandsbek, Bärenstraße 7a: Eine Baracke mit Pappwänden, drei Zimmer, Küche, Klo."

Als Kempowski 1956 in der Bundesrepublik eintraf, hatte er acht Haftjahre in Bautzen abgesessen, verknackt wegen "Spionage", weil er als Achtzehnjähriger amerikanischen Geheimdienstleuten Dokumente über die Demontage der Sowjetzone zugespielt hatte: "Eigentlich hatte ich nichts gegen die Ausplünderung, das taten die Amerikaner ja in ihrer Zone auch, das war irgendwie ihr gutes Recht. Aber das musste doch aufgeschrieben werden, damit die Reparationszahlungen nach dem Friedensvertrag nicht wieder von vorne losgingen. Dass überhaupt kein Friedensvertrag kam, wussten wir ja damals nicht." Die erhoffte Anerkennung als politischer Gefangener wurde ihm in der Bundesrepublik versagt. Er bekam sogar zu hören, dass er nichts weiter sei als ein gewöhnlicher Krimineller, und er konnte zusehen, wo er blieb. Den Neuaufbau einer bürgerlichen Existenz musste er aus dem Nichts heraus beginnen, so wie Millionen andere Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge, Vertriebene, ausgebombte Obdachlose, "Umsiedler" und Displaced Persons in der Wüstenei, die das ebenso mörderische wie selbstmörderische Regime der Nationalsozialisten den Überlebenden des Zweiten Weltkriegs hinterlassen hatte.

In der Untergangszeit des "Dritten Reichs" hatte sich der langhaarige, jazzmusikverliebte "Swingboy" Kempowski dem Dienst in der Hitlerjugend und den Pflichten als Flakhelfer so weit wie möglich zu entziehen versucht. Nach dem Krieg und nach der vorzeitigen Haftentlassung - 1948 war er wegen des "Spionage"-Vorwurfs zu 25 Jahren Knast verurteilt worden - schwankte er zwischen der Versuchung, sich an das Gefühl des Weltekels zu verlieren, und der Aussicht, es allen noch einmal zu zeigen und sich aus eigener Kraft zu rehabilitieren.

Dieses Ziel hat Kempowski erreicht, obwohl er unterwegs die aberwitzigsten Hürden bemeistern und bittere Enttäuschungen erdulden musste. Sein Haftbericht "Im Block", der 1969 im Rowohlt Verlag erschien, nach Jahren der Recherche, des Umschreibens und des sicherlich für beide Seiten strapaziösen Tauziehens zwischen dem Autor und seinem bei Rowohlt angestellten Mentor und Entdecker Fritz J. Raddatz, war ein Flop. Bis Ende 1970 wurden nur knapp zweitausend Exemplare verkauft. Eine weitere herbe Zwischenbilanz hat im Jahr 2004 Kempowskis aktenkundiger Biograf Dirk Hempel gezogen: "Im zweiten Halbjahr 1970 waren von 72 ausgelieferten Exemplaren 68 remittiert worden, Reinverkauf 4 Bücher, Bruttohonorar 6,01 DM."

Zu diesem Zeitpunkt hatte Kempowski sich zwar als Grundschullehrer etabliert, und er war nicht finanziell notleidend, aber man stelle sich einmal den Mittag vor, an dem Kempowski den Honorarbescheid aus Reinbek erhielt, aus dem hervorging, dass sich von Juli bis Dezember 1970 nur vier Menschen dazu bereitgefunden hätten, dieses in so vielen Jahren der Arbeit unter unendlichen Geburtsbeschwerden produzierte und von acht Jahren der Drangsal handelnde Buch zu kaufen. Und über alledem lastete das Gefühl der Schuld für die Jahre der Gefängnishaft, in die Kempowski seine Mutter mit der unseligen "Spionage"-Geschichte unfreiwillig hineinmanövriert hatte.

1969 hatten die meisten Westdeutschen etwas anderes vor, als sich mit dem Bericht eines Häftlings aus Bautzen zu befassen. Der Durchbruch zum großen Publikum glückte Kempowski erst 1971 mit dem Familienroman "Tadellöser & Wolff". Eberhard Fechners TV-Verfilmung der Romane machten Kempowskis Namen einem nach Millionen zählenden Leserkreis bekannt. Nun war er zwar ein Bestseller-Autor, der beim Volk gut ankam, doch im Unterschied zu Böll und Grass und Lenz zog er alsbald den Groll vieler Neider und Deppen auf sich, die in ihm einen Reaktionär und kalten Krieger erblickten, der die Nazizeit verharmlose. Dass Kempowski in seinen Romanen und Befragungsbüchern - "Haben Sie davon gewusst?" - den Erinnerungsbildern, Traumblasen und allem abgesunkenen Strund der Nazizeit auf den Grund ging, wie ein Tiefseeforscher, ist von seinen Verächtern nicht einmal wahrgenommen worden.

Aus Zuneigung zu den Menschen, denen das Rad der Geschichte über den Nacken gewälzt worden war, entschloss Kempowski sich dazu, in seinem Haus ein Archiv unpublizierter Autobiografien einzurichten. Aus diesem Archiv ist das zehnbändige "Echolot" hervorgegangen, mit Zeitzeugnissen und Auszügen aus Tagebüchern und Briefen, die ohne Kempowskis Engagement für alle Zeiten verloren gewesen wären. Eine weitere Säule in Kempowskis Lebenswerk bilden die Tagebücher, in denen er noch jeden "Kenner" seines Werks immer wieder überrascht und übertölpelt hat: "Ich bin der Sonnyboy der deutschen Gegenwartsliteratur", schrieb er 1983. "Ein hingeschissenes Fragezeichen."

Kennengelernt habe ich Kempowski 1984, als jugendlicher, vorurteilsbefrachteter und auch sonst recht dusseliger Teilnehmer eines Literaturseminars im "Haus Kreienhoop" in Nartum. Da gab er sich, zu meiner Überraschung, als kundiger Leser von Arno Schmidt zu erkennen, rühmte auch das von mir damals favorisierte, ja: geliebte Hassbuch "Rom, Blicke" aus dem Nachlass von Rolf Dieter Brinkmann und lud mich dazu ein, im nächsten Sommer einige Zeit in seinem Haus zu verbringen, gemeinsam mit anderen jungen Leuten, die bei ihm wohnen dürften, solange seine Frau im Urlaub sei: Er selber könne sich fürs Urlaubmachen nicht erwärmen; da umgebe er sich lieber mit Jugend, die ihn dann freilich zu bekochen habe. Und es dürften nicht nur Spiegeleier gebraten werden!

Am letzten Abend des Seminars war Schwof angesagt. Zu später Stunde setzte sich Kempowski an den Flügel und spielte, in einer getragenen Version, das Deutschlandlied. Ich kriegte eine Gänsehäut. Das sei geschmacklos gewesen, sagte ich zu ihm, und da wandte er sich wortlos ab (was mich schmerzlich berührte). Seine Antwort erhielt ich erst einige Wochen später schriftlich: "Es tut mir leid Ihnen sagen zu müssen, dass zu unserer Sommergemeinschaft wortloses Verstehen gehört. Vor der Frage steht das Nachdenken, und zum Nachdenken gehört Sympathie - und sie eben ist nötig, wenn wir hier wie eine Familie drei oder vier Wochen gemeinsam verbringen wollen. Aus diesem Grunde muss ich meine Einladung an Sie leider rückgängig machen." Das war kurz nach Nikolaus. Unmittelbar vor Weihnachten revidierte Kempowski seine Entscheidung: "Also, meine Mädchen vom Sommerklub haben mir sehr eingeheizt, sowas könnt ich doch nicht machen, und das gefällt ihnen gar nicht, dass ich den Gerhard wieder auslade. Dies hab ich mir inzwischen auch überlegt und vielleicht sollte ich mich sogar entschuldigen für meine abrupte Reaktion. Es würde mich freuen, wenn ich den Brief ungeschehen machen könnte, und ich erneuere die Einladung zum Sommerklub hiermit, allerdings unter einer Bedingung: Dass mir vaterländische Diskussionen unter der norddeutschen Sonne erspart bleiben."

Und so kam es, dass ich bei ihm doch noch ein und aus gehen durfte, bespöttelt als "zigarrerauchender Vaterlandsfeind". Das offene Haus, das Kempowski bewohnt hat, darf man sich, nach einer buchtitelstiftenden Formulierung von Dirk Hempel, als "Kempowskis zehnten Roman" vorstellen: Für unzählige Kempowskianer ist es Museum, Kloster, Aula, Bahnhofscafé, Internat und Audimax in einem gewesen; so eine Art Summerhill für freigeistige Literaturliebhaber. In einem der sorgfältig geführten Gästebücher findet sich der launig anmutende Eintrag des Literaturkritikers Hanjo Kesting: "Et ego in Kempowskia."

Das trifft es. Kempowski hat jedermann an sich herangelassen und den Kontakt zu seinen Lesern gesucht, anders als der von ihm verehrte Arno Schmidt, der sich in seinem "furchtbaren Heidebunker" (Jörg Schröder) verkriechen musste, um in Ruhe arbeiten zu können. Kempowski hingegen führte mitunter ganze Busladungen neugieriger Rentner und Touristen durch sein Haus, lauter Volk, das ihm dann auch noch Erstausgaben der Bücher von Arno Schmidt klaute und so gut wie nie das Versprechen hielt, zum Dank Abzüge der beim Rundgang geschossenen Fotos zu schicken. Profitiert hat Kempowski dennoch von seiner in Maßen kultivierten Leutseligkeit. Der isolierte, zu dauerhaften Freundschaften unbegabte Tüftler Schmidt, der sich in seinem Leben nur einer einzigen öffentlichen Lesung ausgesetzt hatte, verbohrte sich zuletzt immer tiefer in den Hieroglyphen seines Spätwerks, weil ihn die Leser, wenn sie nicht Jean Paul oder Ludwig Tieck hießen, eben nicht interessierten. Kempowski hielt es dagegen mit Hitchcock, der den allergrößten Wert auf Suspense gelegt hatte: Wie fesselt man das Publikum?

Und wie sind Erstklässler zu bändigen? Zugutegekommen sind Kempowski beim Schreiben auch seine Erfahrungen als Grundschullehrer, der jahrelang jeden Morgen einem Haufen ungebärdiger Lümmel und Gören zur Konzentration verhelfen musste. In fast jedem Satz der "Chronik" schimmern Sound und Struktur uralter Schultafeltexte durch: "Zuweilen wurde auch die Sicherheit des Kellers erörtert. Die Waschküche mit dem Abflusssiel lag höher als der Luftschutzkeller. Das sei eine Mausefalle. Bei Wasserrohrbuch, gute Nacht." Im Mosaik solcher Details haben viele Deutsche ihre Vergangenheit wiedererkannt und Kempowski einen unerhörten Erfolg beschert. Seither gilt Kempowski als "Volksschriftsteller", obwohl er sich vor dem Wort geradezu geekelt hat: Das habe etwas "Nazistisches", das ihm zuwider sei, hat er gesagt.

Mit dem Ex-Bautzen-Häftling Kempowski haben die linksliberalen Kulturjournalisten in der Bundesrepublik viele Jahre lang nichts zu tun haben wollen. Ein Dämelklaas hat Kempowski 1990 im Stern als Plagiator bloßzustellen versucht, und es fehlte auch sonst nicht an übler Nachrede. Manche hässlichen Äußerungen, die in der Welt sind, mag Kempowski durch sein ungestümes Wesen selbst provoziert haben, aber ich habe mich immer gefreut, wenn ich ihn beim Zappen in einer Talk-Show vorfand: Da brachte er oftmals mit frechen Bemerkungen alle gegen sich auf und ließ die Sturzbäche der Schimpftiraden souverän an sich abperlen.

Wer sich mit der Geschichte des deutschen Bürgertums vom Wilhelminismus bis zur Adenauerzeit vertraut machen möchte, der ist gut beraten, wenn er die Romane von Kempowski liest. Im "Echolot" gibt es darüber hinaus die entsetzlichsten Beschreibungen des Elends im belagerten Leningrad zu lesen: Tischlerleim hatten die Russen damals gefressen in ihrer Not. Das alles steht verzeichnet in den Büchern von Walter Kempowski, der sich trotz alledem so oft dem Vorwurf ausgesetzt gesehen hat, dass er die Vergangenheit verniedliche. Noch 1999 hat ein Germanist in einem Buch mit dem Obertitel "Abiturwissen Deutsch" die Werke von Walter Kempowski der "Unterhaltungsliteratur" zugeordnet, zwischen denen von Hera Lind und Johannes Mario Simmel. (Claus J. Gigl heißt dieser Heini, der in seinem Buch zu allem Überfluss auch noch den Vornamen von Walter Kempowski falsch buchstabiert hat.)

Von den Kritikern sind Kempowskis Werke oft gelobt, aber oft auch oberflächlich abgekanzelt worden. Bei aller Liebe zu Robert Gernhardt, der 1984 im Spiegel Kempowskis Roman "Herzlich willkommen" verriss, bleibt festzustellen, dass der Roman sich besser gehalten hat als der Verriss, der Kempowski nicht aus der Bahn geworfen, aber irritiert hat: Das sei doch, soll er gesagt haben, eigentlich ein ganz ordentlicher Mann, dieser Herr Gernhardt?

Kempowskis Hunger nach Kompensation und Anerkennung war enorm. Als ehemaliger Knastbruder hat er sein Leben lang nach Auszeichnungen, Orden und anderen Beweisen der Tatsache gelechzt, dass er aus der Einzelhaft zurück in der Mitte der Gesellschaft angelangt sei.

Viele Ehrungen, die er angestrebt hat, sind ihm, auf seine alten Tage, zuteilgeworden, und er hat mehrmals erklärt, dass er sich nun am Ziel befinde und seine Erfüllung gefunden habe. Aber jeder, der das Glück gehabt hat, ihn etwas näher kennenzulernen, weiß, welche Preise er nun doch noch gern mit hinab ins Grab genommen hätte (und wer sich nun schämen sollte).

Uns bleiben Kempowskis Bücher, Rücken an Rücken: Im kollektiven Gedächtnis haben sie Tieferes hinterlassen als die Reifenspuren im Sandkasten des Prinzen Walther von Aquitanien - dies als kleine Anspielung für Kempowski-Kenner.

Aus dem Leben ist Kempowski, nach eigener Vorhersage, friedlich geschieden. Es reiche ihm nun allmählich, hat er mir bei meinem letzten Besuch in Nartum gesagt, in einer an Jean Paul erinnernden Gemütsverfassung: "Oh! Wie schön ist das Sterben in der vollen leuchtenden Schöpfung und das Leben! - Und ich dankte dem Schöpfer für das Leben auf der Erde und für das künftige ohne sie."

Gerhard Henschel, geboren 1962 in Hannover, lebt als freier Schriftsteller bei Hamburg. Er veröffentlichte Satiren, Sachbücher und Romane, darunter "Kulturgeschichte der Missverständnisse" (mit Brigitte Kronauer und Eckhard Henscheid, 1998), "Der dreizehnte Beatle" (2005) sowie "Gossenreport. Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung" (2006)

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Wenn es aus ist, ist es aus

Aus-Schnitte aus einem letzten Gespräch mit Walter Kempowski, der Freitagnacht gestorben ist

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Im Mai dieses Jahres gab es in der Akademie der Künste in Berlin eine Kempowski-Ausstellung. Welchen Stellenwert hatte dieses Ereignis für Sie?

Es ist ein Lebenshöhepunkt. 80 werde ich leider nicht, wäre ich gerne geworden. Aber 78 ist doch auch nicht schlecht. So eine Ehrung ausgerechnet am Pariser Platz zu bekommen. Dass mein Archiv nun an diesem Ort ist, so etwas Großartiges kann sich das Leben eigentlich gar nicht ausdenken. Und dass die Wichtigkeit dieses Archivs jetzt so wahrgenommen wird, ist für mich eine große Befriedigung. Zumal es eben lange Zeit nicht der Fall war, dass man mich überhaupt beachtet hat.

Lange Zeit wurden Sie von den Medien, von den Kritikern missachtet. Warum?

Ich bin konservativ. Ich bin kein Sozi. Und durch meine Zeit im Zuchthaus, in Bautzen, können Sie sich vorstellen, dass ich kein Kommunist sein kann.
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Auch Günter Grass und Martin Walser haben sich... über die Kritiker beschwert..., sie vermissen den Respekt ihren Leistungen gegenüber. Können Sie das nachvollziehen?

Überhaupt nicht. Das sind doch die letzten Nieten. Was hat denn Walser geschrieben? Illustriertenromane. Und haben sie von Grass schon mal was gelesen?

“Im Krebsgang“ vielleicht?

Das Buch, das er von mir abgeschrieben hat? Sogar den Titel hat er von mir. Unglaublich ist das.

Warum denken Sie, dass er das Buch bei Ihnen abgeschrieben haben soll?

Ich hatte vorher ein tausendseitiges Buch über den Untergang der Wilhelm Gustloff geschrieben, und Grass erwähnt mich in seinem Buch mit keinem Wort. Was ist das für eine Ungehörigkeit? Und die Presse hat es auch nicht getan. Der Ausdruck „Krebsgang“ kommt im Vorwort vom ersten „Echolot“ groß und deutlich vor. Ja, woher hat er das denn? Ist doch kein gebräuchliches Wort, oder?
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Anscheinend leiden die Leute alle unter kurzem Gedächtnis. Die sollten sich mal überlegen, was Hans Magnus Enzensberger alles ins „Kursbuch“ geschrieben hat – in einer Zeit, als wir uns mit gerade mal 140 Mark über Wasser hielten. Und Studenten vor mir ausgespuckt haben, weil ich konservativ bin.
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War es nicht der allgemeine Zeitgeist von ’68?

Was heißt denn Zeitgeist? Dann kommen Sie gleich auf die Nazis. Das war auch ein Zeitgeist. Oder denken Sie an die Monarchie, an Wilhelm II. Was soll denn das Wort bedeuten – Zeitgeist? Das waren doch alles denkende Menschen, Studenten und so weiter. Die haben dann Leute verfolgt, die acht Jahre im Zuchthaus saßen und ihre Meinung verteidigt haben. Eben das gemacht haben, was sich gehört – nämlich die Demokratie verteidigt. Diese Leute werden lächerlich gemacht und ignoriert. Bis heute. Und da war die Ausstellungseröffnung am Pariser Platz eine große Genugtuung für mich.
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Dass man Sie heute so hoch lobt, dass Sie heute von einer jungen Generation neu entdeckt werden und dass Autoren wie Grass oder Walser Schwierigkeiten mit dem Zeitgeist haben – ist das eine Art Genugtuung für Sie?

Das kann ich gar nicht so beurteilen, ob das wirklich so ist. Aber auch Böll ist ja vollkommen weg. Allerdings steht der noch heute auf sämtlichen Schulempfehlungen drauf. Und wer steht nicht drauf? Auf keiner einzigen Liste steht der Name Kempowski. Das sollten Sie mal bedenken, was das bedeutet! Das heißt, die ganze junge Generation hat keinen Zugang zu mir.

Sie sagten mal, dass das Schreiben für Sie eine Pflicht sei. Was für eine Pflicht ist das?

Wenn wir nun schon mal Schriftsteller sind, müssen wir die Geschichte auch mal durcherzählen, wenn man das Gefühl hat, dass die anderen sie falsch wiedergeben. Und das hat mich dazu gebracht, zuerst den „Block“ zu schreiben und schließlich die „Chronik“ und das „Echolot“.

Die Wahrheitsfindung als oberstes Gebot?

Die Geschichte eben zu erzählen, wie sie meiner Ansicht nach war. Und ich hasse es, Fragmente zu hinterlassen. Das ist das Vollendungsstreben.
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Hatten Sie jemals Angst, alt zu werden?

Nein, nie. Und dass ich nun alt bin, merke ich erst in den letzten Wochen. Seit Oktober vorigen Jahres bin ich alt.

Ängstigt Sie der Gedanke an den Tod?

Tja, mein lieber Mann. Ich hoffe, dass es bald zu Ende ist. Das Einzige, was mich am Tod wirklich traurig macht, ist, dass man als Toter keine Musik mehr hören kann.

Hilft der Glaube?

Ja, ich denke aber, dass das mit Glauben nichts zu tun hat. Wenn es aus ist, ist es aus.

Sie haben den Zweiten Weltkrieg miterlebt, haben in Bautzen einen Selbstmordversuch überlebt, in Ihren Tagebüchern äußern Sie regelmäßig Gedanken zum eigenen Tod. Ihr Tod, so scheint es, war Ihr ständiger Begleiter...

Für alle Fälle. Ich war immer auf den Tod vorbereitet.

Hat der Tod für Sie auch etwas Schönes?

Nein. Ein gewaltsamer Tod hat wohl nichts Schönes. Es sei denn, man besorgt sich noch angenehme Pillen. Aber die gibt’s ja jetzt nicht mehr. Früher konnte man das machen!

Von welchen angenehmen Pillen sprechen Sie?

Solche, wo man dann einschläft.

Hätten Sie das gerne gemacht?

Das wäre schön, ja. Aber den Zeitpunkt zu bestimmen ist schwierig. Ich habe ja noch so viel vor.

Sie plädieren für Sterbehilfe?

Natürlich. Damit man den anderen Leuten nicht zur Last fällt. Für die Angehörigen hat das ja nicht gerade angenehme Seiten. Das möchte man denen gerne ersparen.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie Ihren Angehörigen zur Last fallen?

Nein. Aber wenn die letzten Tage kommen, der letzte Augenblick, da wird es schwierig. Das kann man sich nicht vorstellen.

Ist der Tod dann eine Art Heimkehr?

Schlaf. Schlaf ist ein süßer Tod. Schlaf, des Todes Bruder.

Man kann sagen, dass Sie ein sehr bewegtes Leben gehabt haben. War es auch ein erfülltes Leben?

Ja, das kann man so sagen. Da ist keine Ritze mehr frei. Besser hätte es nicht kommen können. Es war wirklich wunderbar. 

Das Interview führte Nahuel Lopez Anfang Juli in Kempowskis Haus in Nartum. 

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