Zärtlich war die Nacht

Der Mensch in der Revolte gegen die Wirklichkeit – zum Tod von Michelangelo Antonioni

So ein Auge hatte ich im Filmgeschäft noch nie erlebt, schreibt Vanessa Redgrave in ihren Erinnerungen über ihre Arbeit mit Michelangelo Antonioni, an „Blow Up“, 1966. „Dem Dialog kam keine große Bedeutung zu, er war bloß sekundär. Da ich eine ausgebildete Tänzerin war, kam mir das sehr entgegen. Ich lernte scharf und präzise auf die Formen und Farben um mich herum zu achten. Ganz genaue Positionen, Haltungswinkel des Körpers, des Kopfes und der Schultern, genaues Tempo der Bewegung – das war lebensnotwendig für Antonioni.“ Seinen Akteuren gegenüber ist Antonioni weniger als Regisseur aufgetreten denn als Choreograph, seine Bühne war die moderne Industrielandschaft, seine Filme gehören zur großen Environment-Kunst des vorigen Jahrhunderts. Wenn gegen Ende von „L’eclisse“ Monica Vitti und Alain Delon über den Zebrastreifen ziehen, sind dessen Streifen wie die Markierungen für einen Pas de deux.

Antonionis Karriere, das ist die Geschichte von einem, der auszog im Wissen, dass er das Fürchten vor der Moderne nicht lernen werde. Er war der einzige Filmemacher, der den Blick konsequent nach vorn richtete, der völlig frei war von nostalgischen Anwandlungen – Roland Bartels hat ihm seine Reverenz erwiesen. Antonioni war fasziniert vom Industriezeitalter, seinen Fabrikanlagen und seiner Plastikfarbenmagie, er hat diese Faszination in seinem Film „Deserto Rosso“ dokumentiert. Er hat sich viel versprochen vom neuen Menschen – sein Auftritt in Wim Wenders’ kurzem Film „Chambre 666“ ist ein Highlight internationaler Kino-Utopie.

Fortgetragen vom Wind

Geboren ist Michelangelo Antonioni am 29. September 1912 in Ferrara, er studierte Volkswirtschaft, arbeitete kurz in einer Bank, ging dann nach Rom, war kurz an der Filmhochschule und schrieb Filmkritiken. Mit Rossellini arbeitete er 1942 am Script für dessen „Un Pilota ritorna“, Marcel Carné hat er beim Dreh der „Visiteur du soir“ assistiert. Nach dem Krieg drehte er „Gente del Po“ und weitere Kurzfilme, 1950 konnte er einen ersten Spielfilm realisieren, „Cronaca di un amore“. Antonioni hat die Moderne ins Herz des Neorealismus gepflanzt, ist den entwurzelten Menschen der Fünfziger durch Mailand und Ferrara, Turin und Ravenna gefolgt, unaufdringlich, aber ohne sie aus seinem Blick zu lassen, selbst in den Momenten von Krankheit, Verzweiflung und des Todes: Frauen, die ihre schweren Pelzmäntel tragen, als wären sie Rüstungen, und Männer, die das Zeichen einer neuen Lost Generation auf der Stirn tragen – „Tender Is The Night“, das große Werk von F. Scott Fitzgerald ist eins der Bücher, das Anna hinterlässt, das Mädchen, das in „L’Avventura“ bei einem Schiffausflug zu den Äolischen Inseln plötzlich verschwunden ist, als hätte der Wind sie mit sich fortgetragen. Alle Kunst geht im Grund auf eine Entscheidung zurück, hat Antonioni seine Haltung definiert, und das ist, in den Worten von Camus, „die Revolte des Künstlers gegen das Wirkliche“. Er liebte es, möglichst blank an den Drehort zu kommen, ohne große Vorbereitung, jungfräulich.

Antonionis Kino war revolutionär, aber es hat sich keine Sekunde in eine vordergründig kämpferische Attitüde verrannt. (Sein langer dokumentarischer Trip durch China hat die Funktionäre dort nicht sehr erfreut.) 

Die neue Präsenz der Moderne hat das alte historische Bewusstsein modifiziert, seine Zielgerichtetheit, seine Sehnsucht nach Überdauern und Jenseits und Zeitlosigkeit. Der junge Held in „L’Avventura“ bewundert die Renaissance-Architekten, ihre außerordentliche Freiheit: „Wer braucht heute noch schöne Dinge, Claudia? Wie lange währen sie? Damals hatten sie Jahrhunderte vor sich...“ Der junge Architekt, Gabriele Ferzetti, befindet sich mit Claudia, Monica Vitti, über der Stadt, auf dem Dach der Kathedrale, und irgendwie muss man in diesem Moment an „Vertigo“ denken, jene andere markante Geschichte vom Verschwinden einer Frau aus dem Zentrum einer Amour fou, die Hitchcock zwei Jahre zuvor drehte.

Antonioni war ein Kämpfer, man sieht es seinen Filmen nicht an, mit ihren somnambulen Kamerafahrten, ihren chiricoesken Fassaden und Plätzen. Die Streitereien um „Zabriskie Point“, seinen großen amerikanischen Versuch zur Studentenrevolte, sind legendär, mit dem Produzenten Carlo Ponti, mit dem die Zusammenarbeit an „Blow Up“ so gut funktioniert hatte. Dazu kam ein schwieriger Dreh in der Wüste, das berühmte Love-In, die Suche nach den richtigen Soundtrack, die legendäre Schlusssequenz mit dem berstenden, seine Innereien hinausschleudernden Traumhaus in der Wüste Nevada.

Trostlos aber schon die Geschichten um seine italienischen Produktionen. „L’Avventura“ versetzte das Publikum in Aufruhr bei den Filmfestspielen von Cannes, in Deutschland kam damals nur eine stark gekürzte Fassung unter dem moralinsauren Titel „Die mit der Liebe spielen“ in die Kinos. Das frühere Projekt „I Vinti“, drei Dostojewski-hafte Mordgeschichten aus Paris, London, Rom, ohne den Ansatz einer moralischen Wertung, hatte unglaubliche Produktions- und Zensurprobleme. „Le Amiche“ nach Pavese wurde von einer Firma begonnen, zweieinhalb Monate unterbrochen, von einer anderen weitergemacht. Was für eine Unruhe bei einem Projekt, dessen Vorlage, der Roman von Pavese, „in eine Welt der Gefühle ruht wie eine geheimnisvoll unbewegliche Pflanze im Sturm“. Die zweieinhalb Monate Zwischenzeit waren eine einzige Kette von demütigenden Unterhandlungen, Versuchen der Neufinanzierung. Und immer wieder, wenn man seine Geschichte erzählt, die Rückfälle in alte melodramatische Klischees: „Wir könnten eigentlich Momina einen Hund geben, der dann im Po ertrinkt. Das ist rührender.“

Wie eine Pflanze im Sturm bewegt sich dann Jack Nicholson durch den Film „Profession: Reporter“, vegetabilisch und ungerührt von äußeren Ereignissen.

Ein Reporter, der in der afrikanischen Wüste Rebellen nachspürt und plötzlich, in einem schäbigen Hotelzimmer einen Toten entdeckt und dessen Identität übernimmt. Der Film oszilliert zwischen Natur und Kultur wie die Bauten von Gaudí, die er kurz aufsucht in Barcelona. Auch London und München stehen auf Nicholsons Programm, auf einer Fahrt, die kein Erkundungstrip mehr ist und noch keine Flucht. Es ist eines der wenigen Male, dass Nichilson, Inbegriff der neuen Lost Generation, sich als Nicholson zurücknimmt. Das Ende ist eine berühmt-berüchtigte Tour de Force. Die Kamera lässt den toten Nicholson hinter sich in einem schäbigen spanischen Hotelzimmer und fährt durch das Gitter vor seinem Fenster, auf einen Dorfplatz, auf dem Kinder sich tummeln und ein Polizeiwagen herankurvt, und am weiten Himmel das Ende dieser Welt sich abzeichnet. Bevor es so weit ist, kurvt die Kamera schnell zurück, für einen kurzen Blick auf den toten Mann im Zimmer. „Alle Menschen, die den Tod betrachten“, heißt es in Antonionis Erzählband „Bowling am Tiber“, „sind ein und derselbe Mensch. Aber es ist eine Identität, die nur so lange dauert wie der Blick. Die erste Bewegung macht sie zunichte.“

Mit Antonioni macht das Melodram im Kino eine Pause – man sieht das deutlich, wenn man „Il Grido“, seinen Fünfziger-Jahre-Film aus der Po-Ebene vergleicht mit dem des Kollegen Visconti, „Ossessione“. Mit dem Melo hat Antonioni sich erst spät wieder befasst, im Nachleben gewissermaßen nach „Blow Up“ und „Zabriskie Point“ und „Profession: Reporter“. Schon deshalb müsste man diese Filme der Vergessenheit entreißen: „Das Geheimnis von Oberwald“, wo er den schwülstigen Cocteau mit seinem „Doppeladler“ ganz cool erscheinen lässt, als wär’s ein Stück aus dem Videoclip-Zeitalter. Oder „Identificatione di una donna“, ein mysteriöses Nacht- und Nebelstück, das sich zur Spirale entfaltet.

Und „Jenseits der Wolken“, den er mit Hilfe von Wim Wenders drehte, nachdem ein Schlaganfall ihn sprech- und bewegungsunfähig gemacht hatte.

Der Eros des Autors

Mit diesem Film ist Antonioni das Wunder des modernen Kinos gelungen, ein Autorenfilm ohne Autor. Ein Kinostück, das allein durch die Präsenz des Filmemachers geschaffen und gestaltet wird, ohne dass dieser als Autoren-, das heißt als autoritäre Figur auftritt. Für seine letzte Arbeit in „Eros“ hat er dieses Kunststück zur Perfektion gebracht – eine Episode in einem Triptychon, in dem die Beiträge der Kollegen Steven Soderbergh und Wong Kar-Wai sehr viel bemühter wirken als der von Antonioni. Der Filmemacher lauscht der Bewegung der Körper, dem Spiel des Windes. Für „L’Avventura“ hatte er Hunderte Bänder mit Toneffekten aufnehmen lassen, jede denkbare Nuance des Meeresrauschens, das Grollen der Wellen in der Felsengrotte. „Ich würde lediglich hinzfügen“, fährt Vanessa Redgrave in ihren Erinnerungen fort, „dass Michelangelos Ohren ebenso empfindlich waren wie seine Augen – nicht einfach für Dialoge, sondern für die Geräusche der Natur und der normalerweise leblosen Objekte. Geräusche wie das Blätterrascheln in ‚Blow Up’, und in ‚L’eclisse’ der Klang der Seile, die im Wind gegen die Metallmasten schlagen, sind unvergesslich.“

Am Montagabend ist Michelangelo Antonioni in seinem Haus in Rom im Alter von 94 Jahren gestorben.

FRITZ GÖTTLER
Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, 1. August 2007

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