Computergestützte Kommunikation

Anonymität begünstigt pöbelnde Enthemmung

Augenkontakt begünstigt soziales(!) Miteinander


Exzerpt eines Artikels von CHRISTIAN WEBER


Um früher richtig viele böse Leserbriefe zu bekommen, musste man schon vehement für Experimente an höheren Tieren plädieren, herzhaft Blasphemie betreiben oder um Verständnis für Pädophile werben.

Heute genügt es, in der Online-Ausgabe der Zeitung zaghaft die Möglichkeit anzudeuten, dass sieben Stunden Ego-Shooting pro Tag im Kinderzimmer das Sozialverhalten vielleicht nicht unbedingt optimieren, oder ästhetische Bedenken beim Anblick von Männern zu äußern, die älter als dreißig sind und Skateboard fahren. Das provozierte weit mehr als 2000 Mails, meist bösen Inhalts, meist spinnender „erwachsener“ Menschen.*)

Der Psychologe John Suler (Rider University in New Jersey), prägte 2004 in der Fachzeitschrift Cyberpsychology and Behavior den Begriff der "Toxischen Enthemmung" für das häufig rüde und hasserfüllte Pöbeln von Computernutzern. Die dunkle Seite der Anonymität im Netz, in deren „Schutz“ Menschen Dinge sagen und machen, die sie bei einem analogen Gegenüber nie wagen würden.

Diese Enthemmung kann gutartig sein, so Suler, wenn sich Menschen in Ratgeber- oder Selbsthilfe-Foren emotional unterstützten, geheimste Gedanken austauschten und großzügig ihr Wissen teilten, ohne unmittelbar selbst davon zu profitieren.

Computerbasierten Kommunikation erleichtere es dem Menschen vor dem Monitor, seine innere Sau zu befreien. Die Unsichtbarkeit verstärke noch die bloße Anonymität. Wegen seines Aussehens oder vielleicht einer unsicheren Stimme muss sich niemand gehemmt fühlen. Überhaupt entfielen all die sozialen Vor-Einstellungen durch Status, Macht und Autorität.

Der Psychologe Philip Zimbardo stellte 1969 eine Studie vor, der zufolge Probanden in einem Bestrafungsexperiment stärkere Elektroschocks verteilen, wenn sie eine Kapuzenmaske tragen (– oder ein „Hoodie“?).

Wie wichtig Augenkontakt für das Miteinander ist, wissen Verkehrspsychologen und eigentlich alle Autofahrer seit Langem: Menschen, die sich beim versehentlichen Anrempeln in der Fußgängerzone höflich entschuldigen, verwandeln sich am Steuer ihres Wagens zu rasenden Idioten. Auf der Autobahn reagieren sie bei Tempo 220 auf kleinste (auch vermeintliche) Fehler anderer mit Lichthupe, obszönen Gesten und lebensgefährlichen Fahrmanövern.

Auf der Datenautobahn verhält es sich ähnlich.

Vor Kurzem berichteten die Psychologen Noam Lapidot-Lefler und Azy Barak (Universität Haifa) im Fachmagazin Computers in Human Behavior über ein Experiment, in dem sie 142 Studenten paarweise via Internet-Messenger über ein kontroverses Thema diskutieren ließen. Mal blieben die Versuchsteilnehmer anonym und unsichtbar, mal wurden sie einander mit Namen und persönlichen Daten vorgestellt. Mal sahen sich die Probanden grob über eine Webcam, mal hielten sie über eine weitere Webcam ständigen, engen Blickkontakt.

Das Ergebnis: Der gegenseitige Blick in die Augen reduzierte die Anzahl der ruppigen und polemischen Kommentare - die "flames" - drastisch und verbesserte die Atmosphäre mehr als alle anderen Einflussfaktoren.

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Es bleibt dabei: Das fehlende Gesehen-, Beobachtetwerden (-können) an Örtlichkeiten, die auch anderen Menschen zugänglich sind, vor allem also das Klo, waren schon seit jeher die Bühnen für enthemmten Mitteilungsdrang von Menschen, speziell über Themen, die ansonsten als Inhalte öffentlicher Kommunikation tabuisiert, also gehemmt waren.

Das Klo non plus ultra 2.0 ist die „Computervermittelte Kommunikation“ (CVK). Gegenüber dem Klo ist hier die Zeit zwischen Senden und Empfangen einer Information unter Umständen nahezu null. Im „Idealfall“ kann oder muss sich der Beleidiger schon im Moment der Betätigung des „Enter“-Knopfs über die Leiden seines Adressaten freuen. Ihm entgeht der Genuss der Vorfreude, ein Vorzug der Slow-Kommunikation via Snail Mail, Schnecken- oder Dampf-Post.


*) Das sind ja auch beides Inhalte, über die sich eine "junge" Generation definiert um in der gleichzeitigen Abgrenzung von den Eltern, der "alten" Generation ihre Identität zu finden. Ein pubertärer Prozess - seit Millionen von Jahren sehr heikel!


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Schau mir in die Augen, Troll

In der Anonymität des Internets verlieren viele Menschen alle Hemmungen, sie pöbeln und schreiben rüde und hasserfüllte Kommentare. Zeigt sich im Netz also die wahre Natur des Menschen?

Von CHRISTIAN WEBER
Süddeutsche Zeitung, 22. Dezember 2012


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