Was ist so großartig daran, viele Autos zu verkaufen?

Ästhetik und Politik gehören zusammen.

Verhässlichung und Vulgarisierung sind Sachverhalte jeder Massendemokratie.

Karl Heinz Bohrer


Exzerpt eines Interviews von SVEN MICHAELSEN
mit KARL HEINZ BOHRER


SVEN MICHAELSEN: Viele Linksintellektuelle (um 1968) waren für Sie theoretisch unbeschlagene »Großmäuler, die eigentlich nicht bis drei zählen konnten«, die »jeden, der nicht mit von der Partie war, verbal zum Abschuss freigaben«.

KARL HEINZ BOHRER: Fatal und flächendeckend opportunistisch wurde die Sache erst, als aus diesen ehrgeizigen Typen Hochschulprofessoren wurden, die ihre Seminare nach Gewerkschafts Muster einrichteten und alle in Reih und Glied mit der gleichen Meinung abrufbar waren.

Ich habe den sardonischen (grimmig schmerzvoll spottend) Verdacht, dass nicht wenige dieser Leute 35 Jahre vorher Nazis geworden wären. Sollte es stimmen, dass unter den prominenten Progressiven von heute viele potenzielle Nazis stecken, ist das, was sie über die Nazis sagen, ironisch und komisch.

Sie sagen, Ihnen seien Empörungsgesten zuwider, »da sie sich nicht mit der Haltung des Stolzes vertragen«. Ein seltsamer Elitismus.

Wer sich empört, gibt seine Unterlegenheit zu und meint, er könne sie moralisch wettmachen. Ich finde, dass man eine Demütigung nicht noch dadurch öffentlich machen sollte, indem man sie moralisch auszugleichen versucht.

Mein Stolz verbietet mir, jede Art von Demütigung zu akzeptieren. Sie können das mit einem soldatischen oder aristokratischen Kodex vergleichen.

Auf salbadernde Auslegungen meiner Gefühle habe ich mich ebenfalls nie eingelassen. Wenn so etwas notwendig ist, geht man als Katholik beichten. Ansonsten bekennt man nicht.

Der Gestus der Selbsteröffnung ist ja heute gang und gäbe und prägt alle großen Medienereignisse. Die Mehrheit des Publikums ist genau an solchen Intimitäten interessiert. Das alles wird durch das Prinzip des Stolzes verboten.

Von 1984 bis Anfang dieses Jahres waren Sie Herausgeber und Autor des MERKUR und stritten mit polemischem Furor gegen die geistigen Verhältnisse. In einer berühmt gewordenen Serie porträtierten Sie Deutschland unter dem ewigen Kanzler Kohl als vulgäre »Fußgängerzone des Geistes«, in der »die Differenz zwischen Sektvertretern und Staatsvertretern« verloren gegangen sei.

Eine Ihrer Diagnosen lautete: »Es gibt eine Misere in Deutschland, die kann man nicht abwählen. Und es gibt ein Unvermögen, das kann kein Bruttosozialprodukt ausgleichen. Dieses Unvermögen ist die Unfähigkeit zu Stilbewusstsein.«

Ein Soziologe würde sagen, dass Verhässlichung und Vulgarisierung nun mal Sachverhalte jeder modernen Massendemokratie seien. Ich dagegen habe einen romantischen Blick, wie Menschen sein sollten, wie Kultur sein sollte. Ästhetik und Politik gehören für mich zusammen.

Nehmen Sie die bisslose Harmlosigkeit politischer Karikaturen selbst in besseren Zeitungen, die Einfallslosigkeit der Reklame oder die psychologische Einfalt von Serienfilmen: eine Welt ohne formale Sophistication.

Von Kohl zu Merkel: Sind die Dinge besser oder schlechter geworden?

Das von Kohl Akkumulierte und von Schröder in einer gewissen Banalität Weitergeführte ist bei unserer jetzigen Kanzlerin zur endgültigen Banalfigur Mensch geworden.

Frau Merkel ist zweifellos sehr intelligent und besitzt ein anziehendes Lächeln, aber sie hat nicht das geringste Gefühl für kulturelle und psychologische Differenzen in Europa. Ihre Empörung über das frivole Verhalten der Südländer zeigt, dass sie in ihrem kleinbürgerlich-protestantischen Katechismus kein Verständnis für romanische Kulturen hat. Das ist ein Verfall der Kriterien und Distinktionsfähigkeiten.

Die Sprache unserer Kanzlerin ist extrem banal und wird von einer Drögigkeit der schieren Faktizität beherrscht, die nur sagen kann: Die Griechen stehlen! Dass die Griechen einen Anspruch darauf haben, eine andere Kultur zu leben, käme ihr nie in den Sinn.

Die Kanzlerin glaubt, es wäre etwas Tolles und Großartiges, dass ein Land gut verwaltet wird und gute Geschäfte macht. Aber was ist so großartig daran, viele Autos zu verkaufen?

Meine Lebensliebe ist die Universität. Als Student in Göttingen habe ich die ereignislosen Samstage und Sonntage manchmal kaum ertragen. Wenn Menschen nicht arbeiten und keine Genies sind, werden sie banal.

Gegenüber diesem existentiellen Kummer habe ich die Universität als erhabene Existenz empfunden. Es gibt keinen stärkeren Schutz gegen die Banalität des Daseins als theoretisches Denken oder Dichten. Im Hörsaal Studenten zu erklären, was die Kunst an der Kunst ist, war und ist für mich ein Lebenselixier.



Wer das vollständige Interview lesen möchte, gehe zu:

Ich habe einen romantischen Blick
Folter im Internat, Freundschaft mit Ulrike Meinhof, Grabenkämpfe im deutschen Feuilleton: Der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer hat ein bewegtes Leben hinter sich. Ein Resümee

Interview: SVEN MICHAELSEN
Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 40, 5. Oktober 2012


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