Der Mut des Individuums
Die Feigheit im Schwarm

„Ich habe kein Interesse daran, dass Leute meine Songs mitsingen. Ich schreibe keine Songs fürs Lagerfeuer.“

Bob Dylan, im September 2012


Gedanken zum Thema "Mitsingen" und ein Zitat aus dem Interview von JOHANNES WILLMS mit ERNST AUGUSTIN


Wenn Zuschauer in „Kommerz“ Arenen hohe Geräuschpegel erzeugen, jubeln Vereins-Firmen-, Verbands-, Medienvertreter, kurz, alle lohnabhängigen „Mitesser“ im „modernen“ Sport-Business durchweg über (selbstverständlich gute) „Stimmung“. Was mal Beifall oder Anfeuerung genannt wurde, ist nun „Support“ der jeweils favorisierten Mannschaft.

„Vorbeter“ animieren Gruppen von Zuschauern mittels „Flüstertüten“ zu dünnpfiffig massenhysterischen, aggressiv bis höhnischen, vorsätzlich beleidigenden, bestenfalls gebetsmühlenartig dämlichen Lautäußerungen. Ein gigantischer besoffener „Kneipenlärm“, ungeniert gar als „zwölfter Mann“ bezeichnet, ist hier via Profitinteresse schleichend Teil der Spielregeln geworden.

Wenn ein dumpf ins Rund geblöktes „SÜÜG“ von der automatischen Vervollständigungs-App meines gänsebehäuteten Gehirns automatisch mit „Heil“ verlängert wird: Sind denn die Animateure dieses Gebrülls zu prekär gebildet, völlig unsensibel für solch naheliegende Assoziationen, oder nehmen sie die gar trotzig in Kauf, um unterschwellige Tendenzen ihrer "Chöre" zu bedienen?

Im Herden-Gleichschritt generierte Gröl „Gesänge“ mit dem „fairen“ Ziel, die Sportler der gegnerischen Mannschaft zu behindern, “eigentlich“ genau das, was homo sapiens seinen Kindern zuhause und sich selbst, als Individuum, bei nüchternem Kopf, im Sinne eines (v)erträglichen Sozialverhaltens, eines mit- und nicht gegeneinander Lebens verbieten MÜSSTE?! Wo bleiben da übrigens alle moralischen sozial pädagogischen Instanzen und Autoritäten dieser Gesellschaft?

„Eigentlich“ schaue ich mir gerne ein Fußballspiel an. Da ich mich aber mit dem Einlösen einer Eintrittskarte einem derart nervend widerwärtigen Szenario aussetzen müsste, hat mich schon seit mehr als vierzig Jahren keine „Arena“ zu diesem Zweck von innen gesehen. Doch selbst im Fernsehen mute ich mir Fußballübertragungen immer widerstrebender zu, obwohl ich dafür mit der Gebühren-Steuer zwangsweise schon bezahlt habe.

Gäbe es eine Möglichkeit, die visuelle Live-Übertragung oder das Protokoll des sportlichen Wettkampfs allein, zur Not mit einem kompetenten = neutralen Kommentar, ohne das Grölen der Zuschauer zu kaufen, ich wäre sofort dabei. Mich interessieren auch keine Bilder von anstaltsreif veitstanzenden (Siehe: Sankt Vitus) Zuschauern oder emotional inkontinenten leitenden Angestellten von Sport-Konzernen, unter dem Motto: „Der will doch nur gewinnen!“

Individuum sein meint etwas Unteilbares, Einmaliges, etwas das jedes Lebewesen als wertvollstes Prädikat auszeichnet, seine Einzigartigkeit. Wollen Menschen etwas schaffen, das ihnen als Individuum allein nicht gelingt, bilden sie Gruppen, zur Jagd, zum Häuserbau… zum Ermorden von Mitgliedern anderer Gruppen (Krieg)… , wie schon vor mehr als 1.800 Jahren Cyprian von Karthago feststellte:. „Der Mord ist ein Verbrechen, wenn ein einzelner ihn begeht; Aber man ehrt ihn als Tugend und Tapferkeit, wenn ihn viele begehen! Also nicht mehr Unschuld sichert Straflosigkeit zu, sondern die Größe des Verbrechens!“

Sobald sich Menschen in Gruppen identisch äußern, quasi unter "Fraktionszwang", verfügen sie für die Dauer, die sie sich in diesem „Modus“ befinden, nur noch über einen Rest ihrer Individualität. In der kleinstmöglichen Gruppe, dem Paar, verbleibt jedem Partner noch eine Hälfte, in einer hundertköpfigen Gruppe bleibt jedem Mitglied durchschnittlich noch ein Prozent seiner Individualität.

Die grundsätzlich de-individualisierende Wirkung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe steigt mit deren Größe und mit der Zahl von Merkmalsbereichen, die eine Mitgliedschaft einschließt. Je umfassender eine Gruppe im Gleichschritt geht, marschiert, Aerobics betreibt, die gleichen Klamotten, die gleichen Frisuren trägt, die gleiche Meinung nachbetet,… umso stärker hat sie ihre Mitglieder deindividualisiert, umso stärker erscheinen diese uniformiert (Motorradfahrer-Vereine) bis maskiert (Autonome, Ku-Klux-Clan).

Loblieder auf den Wert der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, auf „Soziale Kompetenz“, „nur in der Gruppe sind wir stark“, auf „Teamfähigkeit“,… werden just von ihren Erfindern angestimmt. Sie definier(t)en schließlich die Verhaltens-Uniformen ihrer Gruppen und profitieren nun davon, dass und solange sie von der Mitglieder Masse „getragen“ werden (Zuckerberg, Kapitalismus, Hubbard, Kommunismus, Kirchen…).

Diese egozentrischen Gruppen-„Genies“ verschweigen wohlweislich, dass Anstöße für die Entwicklung der Menschheit selten aus Gruppen, aus der Masse, aus der Mitte des Stroms gekommen sind, sondern vom Rand und meistens von ausgemachten Individualisten, die dafür oft sogar gegen eben diesen Strom schwimmend erhebliche Schwierigkeiten, bis zum drohenden Verlust ihres Lebens, in Kauf nehmen mussten – bis ins Mittelalter - heute wird damit ein Kapuzen-Pullover-Träger Milliardär.

Das Singen in Gruppen hat eine ganz besondere Qualität. Ob „Stille Nacht“ am Weihnachtsbaum, „Lobet den Herrn“ in der Bethalle einer Kirche oder „Schöner Westerwald“ beim Marschieren im Gleichschritt; Je leiser, dafür aber harmonischer ersteres allen Beteiligten gelingt, umso glücklicher gerät deren individuelles Erleben von Geborgenheit in kuscheliger Gemeinschaft. Je lauter und dynamischer das Lied in der Kirche und das von Soldaten bei gleichschrittiger Bewegung durch die Landschaft und/oder von besoffenen Junggesellen auf der Vatertagskutsche ausfällt, umso berauschender gerät die Überzeugung, der erfolg-, der siegreichen Gruppe anzugehören.

Jedes gemeinsame Tun, besonders gemeinsames Musizieren und speziell das Singen in der Gruppe erzeugt „gute Empfindungen, Glücks Gefühle“. Da sich die unabhängig davon einstellen, welcher Text gesungen wird, ist das Musik-Gruppen-Erlebnis noch heikler und entsprechend noch kritischer zu hinterfragen als jede andere Gruppenaktivität.

„Sweet Home Alabama“ und „Stranglehold“ sind beides edle Geschöpfe der Rock Musik. Die opportunistische Anbiederung bei einer nicht gerade für die Aufhebung der Rassentrennung bekannten Mehrheit in den Südstaaten der USA (Watergate? Stört Dich Dein Gewissen?), drapiert mit ein paar Trostpflästerchen für mögliche „liberale“ Käufer der Platte (boo, boo, boo), macht die „Liebeserklärung“ für das süße Alabama zu einem Beispiel guter Rockmusik mit miesem Text.

„Ich hab Dich im Würgegriff, schlag Dir die Fresse ein… . Ein Haus, das mir im Weg ist, brenne ich ab…“, unvorstellbar, dass einer, der solch kranke Texte singt, auch noch am 14. April 2012 bei der NRA (Nationale Schusswaffen Vereinigung der USA) ungestraft folgendes absondern durfte: „Unser Präsident, Justizminister, unser Vizepräsident, Hillary Clinton, sie sind Kriminelle….Wir müssen auf dieses Schlachtfeld ziehen und ihnen im November ihre Köpfe abschlagen. Noch Fragen?“ Nee, Mister Nugent, Sie würden in drei Leben nicht mehr auf meiner Setliste stehen.

Eins steht fest, was Individualisten in der Menschheitsgeschichte „angerichtet“ haben, steht in keinem Verhältnis zu dem unvorstellbaren Leid, das Gruppen aller Art generierten. Kein Individualist wäre ein solcher, würde er sich bei gesundem Verstand gegen die Gruppe stellen, die effektiver funktioniert als alle beteiligten Individuen „auf eigene Rechnung“. Vorausgesetzt, das Ziel der Gruppen Aktivität wurde von allen Individuen mitgestaltet, -formuliert und demokratisch abgestimmt.

Wer kann sich vorstellen, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre und weiterhin würde, wäre das Verhalten eines Ernst Augustin „massenkompatibel“, so wie er es in einem Interview mit Johannes Willms schildert:

„ … ich bin im Dritten Reich aufgewachsen. Schon damals musste ich mir eine eigene Welt bauen. Diese Zeit hatte für mich als Kind und dann als Halbwüchsiger ihre Schrecken, weil ich meine Zukunft vor mir sah, wenn ich zur Wehrmacht eingezogen und zum Soldaten gemacht werden würde.

Das war das eine. Das andere war die unendliche Langeweile, der Stumpfsinn, der meine Jugend beherrschte. Das ewige Marschieren, das Absingen von Liedern… Also mich hat dieser Dienst in der Hitlerjugend, dem man sich ja nicht entziehen konnte, weil man dazu von der Schule abkommandiert wurde, unsäglich gelangweilt.

Wir mussten in Schwerin zu großen Aufmärschen antreten, immer sonntags, auf dem ‚Alten Garten‘ vor dem Schloss. An sich ein schöner Platz. Da war ich dann auch dabei, und von dort sind wir losmarschiert. Aber nach 200 Metern bin ich austreten gegangen, für den Rest des Tages.

Ich bin da in der ‚Schlosshalle‘ verschwunden. Eine Gastwirtschaft, in der man Fleischbrühe bekam und die Illustrierten, die es damals gab. Da hab ich dann gesessen, während dieser große Haufen von Pimpfen, wie damals die Mitglieder der Hitlerjugend hießen, durch die Stadt marschierte.

Von fern, von ganz fern, vom ‚Ostorfer See‘ oder vom ‚Paffenteich‘ hörte ich sie Lieder brüllen. Als sie damit fertig waren und wieder zurückkamen, da habe ich mich einfach wieder eingereiht. So war das… “.

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Seltsam, mit diesem Stück von Wolf Maahn haben sie alle ihre Probleme: Die Gruppe selbsternannter "Staatsträger", wie die Masse all derer, die meinen, ihnen hinterher hecheln zu müssen. (Selbst-) Bewusste Individuen "eigentlich" weniger...

Die de-individualisierende Wirkung des Singens in einer Gruppe zugunsten eines fremdgesteuerten Handlungsmodus wird von Interessen-Gruppen verschiedenster Art genutzt. So ist sie von den Kirchen gewollt, vom Militär gewollt, von Nationalsozialisten, Kommunisten, Kapitalisten, und nicht zuletzt von Propagandisten eines "neuen" Nationalstolzes.

Letztere fordern seit einigen PR-lancierten "Sommermärchen" von "ihren" Sportlern gar wieder ungeniert ein inbrünstiges Mitsingen der Nationalhymne, womöglich mit flacher Hand auf der linken Brustwarze und Tränen in den Augen. Bei fehlender gesanglicher Begabung ersatzweise mit allerdings lippenlesbar textgenauem Mundbild.

Die Frage, aufgrund welcher nationalen, "völkischen" - oder weniger heikel - genetischen Herkunft der Sportler berechtigt ist, im Namen der Nation an den Start zu gehen, "erfreut" sich weitaus weniger aufgeheizten Interesses dieser überdurchschnittlich "stolzen" Deutschen.

Das Singen selbst erzeugt beim Singenden gute Gefühle. Singen in einer Gruppe kann dieses „tolle Gefühl“ sogar noch steigern, besonders wohl deshalb, weil individuelle Schwächen der Lauterzeugung in der Masse untergehen. Wofür das Individuum auf sich allein gestellt viel Mut bräuchte, wofür es sich unter Umständen schämen würde, in der Gruppe lässt sich auch ein mieser Beitrag gut verstecken.

Der egozentrischen Neigung nachzugeben, den Gesang eines professionellen Liedvortrags vernehmbar mit der eigenen Stimme zwecks individuellen Lustgewinns karaoke-katastrophal zu begleiten, ist entsprechend nur da tolerierbar, wo kein anderes leidensfähiges Lebewesen Zeuge sein muss. Während eines Stadion-Konzerts auch nur, wenn die Beschallung von der Bühne her jeden zahlenden Gast entschieden lauter erreicht als der „Gesang“ eines, durch welche Droge auch immer, euphorisierten Nachbarn.

Die Freiheit, seinen Körper zu bewegen, endet nun mal an der Nase, an der Körperoberfläche des Mitmenschen. Die Freiheit, seine Individualität, in welcher Facette auch immer, auszuleben ebenso. Entsprechend sind mir Sportarten, in deren Spielregeln dieser Grundsatz gemeinverträglichen Verhaltens noch ausdrücklich effektive Berücksichtigung findet, sehr viel sympathischer, als all die anderen, die seine ausdrückliche Verletzung dulden oder gar mit unverschämtem Einsatz der Stadien Beschallung dazu animieren.

Snooker, Golf und, wenn stöhnende Spieler vom Platz genommen und zum Arzt geschickt werden, dann auch Tennis: Eine Wohltat! Gegenüber Todesängste auslösendem Höllen-Lärm beim Eishockey, Handball oder Fußball.

Bob Dylan mag aus ganz anderen Gründen kein Interesse daran haben, dass Leute seine Texte mitsingen. Vielleicht bedient er ja auch nur einmal mehr das Klischee des Grantlers.

Egal - ich danke ihm für die Anregung, mir mit diesen Gedanken einmal Luft zu machen.

Karlheinz


Dies ist ein Ausschnitt aus dem Artikel:

Ernst Augustin
über
Raum

Interview: JOHANNES WILLMS
Süddeutsche Zeitung,
WOCHENENDE INTERVIEW,
6. Oktober 2012


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