Hört auf die Kinder!

Über religiös motivierte Beschneidung sollte so diskutiert werden, dass die Würde der betroffenen Kinder im Mittelpunkt steht.

Es geht nicht mehr allein um Elternrecht und Staatsräson - das Kind gehört dazu.


Exzerpt eines Artikels von CLAUDIA WIESEMANN


Die Beschneidung (Zirkumzision) ist die teilweise bis vollständige Entfernung der männlichen Vorhaut, der Reservefalte für die Verlängerung des Penis bei der Erektion.

Wie jeder chirurgischer Eingriff ist die Beschneidung eine Körperverletzung, ganz gleich aus welchen Gründen sie veranlasst wird.

Zuletzt bestätigte dies ein Urteil des Kölner Landgerichts vom 7. Mai 2012, das die Zirkumzision als Körperverletzung einstuft, welche durch eine religiöse Motivation und den Wunsch der Eltern nicht gerechtfertigt werde und die nicht im Wohle des Kindes sei.

Geschieht die Beschneidung an (Klein-)Kindern in Ausübung des Elternrechts, dann ist dies außerdem ein Verstoß gegen das „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“, das seit dem Jahr 2000 in Kraft ist.

Nach §1631 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sind nicht nur körperliche Bestrafungen und seelische Verletzungen sondern auch „andere entwürdigende Maßnahmen“ wie Anschreien, Beschämen und Brechen des Willens unzulässig.

Elternrecht ist Erwachsenenrecht, nicht Kinderrecht. Aus rechtlicher Sicht des Kindes verletzt die Beschneidung das Recht auf einen unbeschnittenen Körper.

Wird mit dem Beschneiden eine Zwangsrekrutierung und -zugehörigkeit zu einem Religionsverein verbunden, dann verstößt sie zusätzlich gegen das Recht des Kindes auf die freie Entscheidung über seine Religionszugehörigkeit.

Das Kind sollte - ja, es muss! - auch in der Beschneidungsdebatte als gleichwürdiges Wesen berücksichtigt werden.

Wann haben selbst Kritiker der Beschneidung von Knaben je danach gefragt, was das kleine Kind wollen würde? Ist nicht vielleicht doch das sichere Wissen um die Zugehörigkeit zu einer (religiösen) Gemeinschaft wichtig für ein Kleinkind, das nach vertrauensvollen und verlässlichen Beziehungen strebt?

Haben sich Befürworter der Beschneidung einmal danach gefragt, in welche Ängste die Beschneidung einen Sechsjährigen stürzen kann? Haben sie sich darum gekümmert, was für ein Trauma eine Beschneidung ohne ausreichende Schmerzmittel dem Kind zufügen kann?

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung verlangt, die Beschneidung solle keine "unnötigen Schmerzen" verursachen. Es gibt also doch "nötige Schmerzen"? Etwa wie in der Rechtfertigung der Tracht Prügel, die zur rechten Zeit noch niemandem geschadet habe.

Außerdem macht das Gesetz keinen Unterschied zwischen der Beschneidung eines Neugeborenen und der eines Grundschulkindes. Ein acht Tage altes Kind an der Entscheidung zu beteiligen ist wohl etwas schwierig.

Grundsätzlich aber muss das ältere Kind an der Entscheidung beteiligt werden und sogar das letzte Wort darüber erhalten.

Sonst wird das Kind selbst - versehen mit dem Etikett des Kindeswohls - als moralisch empfindendes Wesen ignoriert. Schließlich geht es um die Manipulation Erwachsener an einem so intimen Körperteil.

Das Problem der Beschneidung ist längst kein Konflikt mehr nur zwischen Elternrecht und Staatsräson. Das Kind gehört dazu. Es geht um sein Vertrauen, um seine Zugehörigkeit, aber auch um seine Würde und seine moralische Integrität.

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Wer wie ich keine Idee hat, was - außer medizinischen Gründen - Menschen zu Beschneidungs Befürwortern macht, hier ein paar Zitate von der Wikipedia-Seite:

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Die Beschneidung wird im Judentum als Eintritt in den Bund mit Gott angesehen. Die Juden berufen sich dabei auf das 1. Buch Mose, in dem es heißt:

„Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden.

Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Jedes Knäblein, wenn's acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. […]

Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er(?) meinen Bund gebrochen hat.“ Gen 17,10–14 LUT

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Im viktorianischen England fand die Beschneidung vor allem bei der Oberschicht Zustimmung. Über die britische Kolonisierung (Britisches Weltreich) verbreitete sich die Beschneidung auch in Indien (bis 1947 britische Kolonie), Nordamerika, Australien, Neuseeland und Südafrika.

Ab etwa 1860 erschienen Publikationen, die die Beschneidung als „Prävention gegen Masturbation“ – damals pejorativ als „Selbst-Missbrauch“ bezeichnet – oder als „Bestrafung“ dafür propagierten.

Beispiele:

„In Fällen von Masturbation müssen wir, wie ich glaube, die Angewohnheit brechen, indem wir die betreffenden Körperteile in einen solchen Zustand bringen, dass es zu viel Mühe macht, mit der Praktik fortzufahren. Zu diesem Zweck, falls die Vorhaut lang ist, können wir den Patienten beschneiden mit gegenwärtigem und wahrscheinlich auch zukünftigem Vorteil.

Auch sollte die Operation nicht unter Chloroform vorgenommen werden, so dass der erlittene Schmerz mit der Angewohnheit, die wir auszurotten wünschen, in Verbindung gebracht werden kann.“ Athol A. W. Johnson, 1860

„Eine Abhilfe für Masturbation, die bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung (…)

Die Operation sollte durch einen Chirurgen ohne Betäubung vorgenommen werden, da der damit verbundene Schmerz einen heilsamen Effekt auf den Geist hat, insbesondere wenn er mit der Vorstellung von Bestrafung verbunden ist. (…)“ John Harvey Kellogg, 1888

„Clarence B. ergab sich dem geheimen Laster, das unter Jungen verbreitet ist. Ich führte eine Beschneidung an ihm aus (…)

Er verdiente die gerechte Bestrafung durch den Operationsschmerz nach seinen unerlaubten Lustempfindungen.“ N. Bergman, 1898

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Theodor Reik (1888–1969, ein österreichisch-amerikanischer Psychoanalytiker jüdischer Konfession und ein bekannter Schüler Freuds) schrieb 1915 in seinem Werk Die Pubertätsriten der Wilden: über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker

„Als eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen unter den Völkerforschern, die sich nicht der landläufigen Ansicht über den Zweck der Beschneidung [wonach diese angeblich die Zeugungsfähigkeit des jungen Mannes steigern solle] anschlossen, sei Strehlow erwähnt.

Dieser Missionar macht geltend, daß durch die schmerzhafte Operation ›die an keinen Gehorsam gewöhnten Jungen unter die Autorität der Alten gebracht werden; sie sollen den Alten gehorchen (…)

Nach dieser Seite hin hat die Beschneidung, so grausam sie an und für sich ist, auf ungebundene, an keine Ordnung gewöhnte Naturvölker jedenfalls einen heilsamen Einfluß, da sie der Ausgelassenheit und Unbotmäßigkeit der in ihre Flegeljahre eintretenden Jugend steuert und ihnen die Autorität der Alten, deren Willen jetzt maßgebend für sie ist, zum Bewußtsein bringt (…)

Durch die Beschneidung soll den geschlechtlichen Ausschweifungen der erwachsenen Jugend ein Damm gesetzt werden. Die Operation wird ja gerade zu einer Zeit ausgeführt, in der bei den betreffenden Jungen der Geschlechtstrieb erwacht, der natürlich bei diesen Naturvölkern in einem stärkeren Maße auftritt.“

„Man darf wohl sein Erstaunen darüber äußern, daß keiner der zahlreichen Anthropologen, Völkerpsychologen und Religionsforscher, welche sich mit dem Problem der Beschneidung beschäftigt haben, den feindseligen Charakter dieser Operation erkannt hat (…)

Die meisten Forscher schließen sich sogar der von den Wilden selbst gegebenen Hypothese [siehe oben] an.

Diese Art der intellektuellen Blindheit läßt sich psychologisch erklären, wenn man bedenkt, daß ähnliche psychische Hindernisse wie die, welche dem Bewußtsein der Primitiven die wirkliche Motivierung der Beschneidung fernhalten, auch in den Gelehrten wirksam sind.“

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Das 'College of Physicians and Surgeons of British Columbia' (BC ist eine kanadische Provinz) schreibt in seinen 'Professional Standards and Guidelines' (Stand September 2009):

„Die Beschneidung männlicher Kinder wurde früher als vorbeugende Gesundheitsmaßnahme angesehen und wurde deshalb in der westlichen Welt breit angewandt.

Die heutige Sicht auf Nutzen, Risiken und mögliche Schäden dieser Prozedur stützt allerdings die Anwendung im Rahmen der Gesundheitsvorsorge nicht mehr. Die routinemäßige Zirkumzision bei einem gesunden Knaben wird jetzt als nicht-therapeutische, medizinisch nicht erforderliche Maßnahme angesehen.“

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Hört auf die Kinder!
Über religiös motivierte Beschneidung wird diskutiert, als ginge es nur um Erwachsene.
Dabei sollte die Würde der Betroffenen im Mittelpunkt stehen.

von CLAUDIA WIESEMANN
Süddeutsche Zeitung, 1. Oktober 2012


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