Nachtblau lakonischer, giftiger Stoizismus

"Einer der Wenigen, die ihre Zuhörer keine Sekunde lang für dumm verkaufen."

Lou Reed, am 20. Juni 2012, in der Zitadelle, Berlin-Spandau



Exzerpt eines Artikels von JOACHIM HENTSCHEL


Lou Reed, der notorische Schwarzkopf und Muffbold des Rock'n'Roll, passt auf, dass er, nach 45 Jahren offen zur Schau getragener mieser Showgeschäft-Laune, auch zu sich selbst nicht unnötig nett ist.

Sollte sich vor Konzert Beginn noch irgendjemand gut unterhalten fühlen, dann lässt er den mit einer Feedback-Folter beschallen. Laute, atonale Gitarren-Avantgarde-Krachmusik, mit Klängen, wie von einer barbarisch gequälten Buckelwalfamilie.

Der lurchcoole, knirschlederne, heute 70-jährige Straßenpoet Lou Reed hat ja immer ein abstraktes, um Gottes Willen, Kunst sinniges Alter Ego gehabt.

Mit Velvet Underground, der Pop-Art-Garagen Band, drosch er dem Rock'n'Roll, Ende der sechziger Jahre, die Hippie Blumen weg (und den halben Kopf gleich dazu?!). Wenn jemand für seine Kooperation mit Metallica 2011 nur Spott übrig hat, dann ist das für ihn, wie wir ihn kennen, wieder nur ein Beweis dafür, wie dämlich die Leute sind.

Er wufft und doziert die unfassbar große Begleitband, und bemüht sich, mit höchst verzweifelter Gestik, aus dem musikalischen Stein wenigstens ein bisschen Stimmung zu pressen. Dann rammt er dem Publikum das verdammte Ding "Brandenburg Gate", irgendwas mit Titten, Blut und Klaus Kinski, wie einen übergroßen Keks in den Rachen.

Dann „Heroin“. Auch das: Eine Qual. Aber es gibt ernsthaft Leute, die hier mitklatschen. Wo doch Lou-Reed-Konzerte oft wie diese Pokerface-Spiele ablaufen, bei denen der verloren hat, der zuerst lacht. Selbstverständlich merkt er nicht, dass er längst gewonnen hat und spielt immer weiter. Eine Stunde, zwei Stunden.

Wenn man dann obskure Stücke wie "Senselessly Cruel" von 1976 hinter sich hat, ein endlos gehämmertes "I'm Waiting For The Man" und weitere "Lulu"-Dröhnungen, wenn man das Ganze eine Weile ertragen hat, dann wird einem tatsächlich erst klar - so sieht nun mal die Kehrseite der Muffigkeit aus – Lou Reed ist einer der wenigen Künstler, die ihre Zuhörer keine Sekunde lang für dumm verkaufen.



Das bedeutet natürlich auch: In dieser Musik scheinen nicht mal Andeutungen einer Entertainment-Strategie zu stecken. Kein Rausch, obwohl es so oft um Drogen ging, bevor Reed irgendwann die klassische Literatur entdeckte.

Dass es durchaus legitim sein kann, dem tanzwilligen Pulk eben keinen Spaß zu machen, ihm von der Bühne herunter nicht mühelose Absolution zu erteilen, ihm ein wenig Arbeit abzufordern, das hat er mit Velvet Underground eingeführt in die Popmusik.

Er hat nie viele Platten verkauft. Keiner wollte mit Lou Reed werben oder angeben. Außer Wim Wenders. Wer das alles begreift, wer den Reed-Psychotest besteht, der kann am Ende plötzlich doch noch Freude an diesem Auftritt haben.

Als die konfuse Big Band ihre Verzerrer herunter dimmt, die Sache luftiger und Kammer musikalischer angeht, der alte Reptilien König "Think It Over" singt oder "Walk On The Wild Side", da klingt der giftige Stoizismus beim Velvet-Underground-Klassiker "Sweet Jane" auf einmal nachtblau lakonisch.

Wie viele seiner Rock'n'Roll-Kollegen aus den 40er Jahrgängen, die derzeit ihre 70sten Geburtstage feiern, hatte Lou Reed natürlich ein Vaterproblem.

Vielleicht will er ja am Ende, ganz tief drinnen, kein cooler Bruder für sein Publikum sein, sondern ein besserer Papa.

Und der ist immer auch erziehungsberechtigt.
...ein Recht, das eine Pflicht ist.

nach oben


Wer die vollständige Konzert Kritik lesen möchte, gehe zu:

Der alte Reptilienkönig
Doch, doch, man konnte bei Lou Reed in Berlin auch seinen Spaß haben - wenn man vorher den zähen Reed-Psycho Test bestanden hatte

von JOACHIM HENTSCHEL
Süddeutsche Zeitung, 22. Juni 2012


Höre auch:

Lou Reed - New York 1989

01 "Romeo Had Juliette"
02 "Halloween Parade"
03 "Dirty Blvd."
04 "Endless Cycle"
05 "There Is No Time"
!
06 "Last Great American Whale"
07 "Beginning of a Great Adventure"
08 "Busload of Faith"
09 "Sick of You"
10 "Hold On"
11 "Good Evening Mr. Waldheim"
12 "Xmas in February"
13 "
Strawman"!
14 "Dime Store Mystery"


nach oben

zurück zu: Dies&das

zurück zu ekdamerow